„Gebotenheit“ des Notwehrrechts: Die Notwehrprovokation und weitere Fallgruppen
I. Einleitung
Das Notwehrrecht nach § 32 StGB gehört in den Prüfungen zu den Grundlagen des juristischen Handwerks und ist nicht nur in den Klausuren beliebter Ansatzpunkt für eine eingehende Auseinandersetzung mit bestimmten Teilfragen der Notwehr. Hierbei gehört die Notwehrprovokation (auf Examensniveau) zur interessantesten, aber auch unübersichtlichsten Fallgruppe, da diesbezüglich in Literatur und Rechtsprechung die unterschiedlichsten Lösungsansätze vertreten werden. Mit Blick auf zwei Entscheidungen des BGH in jüngerer Zeit (BGH, Beschl. v. 04.08.2010 – 2 StR 118/10 und BGH, Beschl. v. 11.08.2010 – 1 StR 351/10; zu beidem instruktiv RÜ 2010 S. 779f), die die Aktualität der Problematik und damit auch Klausurträchtigkeit gut verdeutlichen, sollen im Folgenden vom Merkmal der „Gebotenheit“ ausgehend die wesentlichen Fragestellungen innerhalb einer provozierten Notwehrsituation verdeutlicht werden. In einem weiteren Schritt werden dann die weiteren Fallgruppen der Vollständigkeit halber knapp unter die Lupe genommen.
II. Das Merkmal der Gebotenheit
Zur Erinnerung vorweg der geläufige Prüfungsaufbau im Rahmen von § 32 StGB:
1. Notwehrlage („gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff“)
2. Notwehrhandlung
a) Die Handlung muss generell geeignet sein, den Angriff abzuschwächen oder zu beenden
b) Die Handlung muss erforderlich sein
3. Kenntnis des Täters von der Notwehrsituation (h.M.)
4. sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts (Gebotenheit)
Grundlage des Notwehrrechts und damit auch der Gebotenheit einer entsprechenden Verteidigungshandlung ist nach überwiegender Auffassung ein „dualistisches Notwehrkonzept“ (vgl. Müko/Erb § 32, Rz.6), wonach der Verteidigende nicht nur zum Schutz eigener Rechtsgüter (sog. Schutzprinzip), sondern auch im Interesse der Allgemeinheit an der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung handelt (sog. Rechtsbewährungsprinzip). Aus letzterem folgt insbesondere der bekannte Ausdruck „Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen!“ und bietet zudem eine Erklärung dafür, warum bei § 32 StGB (anders als bei §§ 34, 35 StGB) keine Güterabwägung stattfindet – zu den dogmatischen Einzelheiten und möglicher Kritik am dualistischen System bitte ein Lehrbuch oder einen Kommentar bemühen.
Das Merkmal der Gebotenheit, das auch als „sozialethische Einschränkung“ bezeichnet wird, indiziert, dass in bestimmten Ausnahmesituationen dem Täter das Recht zur Notwehr nicht zusteht. Den jeweiligen Fallgruppen ist dabei gemeinsam, dass sie im Ergebnis einen Rechtsmissbrauch darstellen würden, brächte man § 32 StGB zur Anwendung (vgl. Fischer StGB § 32, Rz.36). Den beiden oben genannten Grundprinzipen wäre dann in keiner Weise mehr Rechnung getragen, jedenfalls würde das individuelle Notwehrrecht als an sich schon „schneidiges Schwert“ so in den Vordergrund treten, dass die eigentliche Zielsetzung des § 32 StGB (Ermöglichung der Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs auf ein Rechtsgut mittels einer unter „normalen Umständen“ eigentlich ebenfalls rechtswidrige Tat) ins Gegenteil verkehrt werden würde – ein völlig inakzeptables Ergebnis. Klassisches Beispiel für eine Einschränkung des § 32 StGB aus sozialethischen Gesichtspunkten ist der bekannte Kirschbaum-Fall (vgl. RGSt 55,82).
Ein guter gedanklicher Ausgangspunkt dabei ist, dass es vor allem um die Fälle geht, in denen der Verteidigende mit gewaltsamen Mitteln zurückschlägt.
III. Notwehr-“Provokation“
Die Notwehrprovokation zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, dass der Verteidigende ganz oder zum Teil dafür verantwortlich ist, die Notwehrsituation verursacht zu haben. Dabei ist die Feststellung, ob ein bestimmtes Verhalten als Provokation zu werten ist, alles andere als einfach zu treffen. Zugespitzt wäre jedes „negative“ Verhalten des Provozierenden (z.B. Verbreitung von Lügen über die Person des Angreifers, Beleidigungen, Gesten, körperliche oder psychische Gewalt, Aufenthalt an einem bestimmten Ort) potenziell geeignet, den Angriff und damit eine Notwehrlage heraufzubeschwören, in der sich der Angegriffene jedoch aufgrund der vorhergehenden „Provokation“ nicht verteidigen dürfte. Damit stellt sich die Frage, was als Provokation im Rahmen von § 32 StGB einzustufen ist und welche Bedeutung dies für das Notwehrrecht hat. Unterschieden wird zunächst zwischen der sog. Absichtsprovokation und der Provokation aufgrund sonstiger Umstände (gute Gegenüberstellung bei HRRS 2010 S.108).
Bei der Absichtsprovokation täuscht der Verteidigende seinen Verteidigungswillen nur an, will in Wahrheit aber angreifen. In solch einem Fall besteht nach ganz h.M. Einigkeit darüber, dass der Täter voll strafbar ist, da er die Tat nur unter dem „Deckmantel“ der Rechtfertigung begangen hat (anders MüKo/Erb § 32, Rz. 200f). Entsprechend muss er dem Angriff ausweichen. Die Rechtsprechung, die entgegen der h.M. einen konkreten Verteidigungswillen fordert, lässt die Rechtfertigung schon an einem entsprechenden Willen scheitern, sodass sie sich nicht damit auseinandersetzen muss, ob dem Täter bei Gefahr für Leib oder Leben dennoch Trutzwehr (s. dazu unten) im Zweifel zustehen kann.
Heftig umstritten sind dagegen die Lösungsansätze in sonstigen Fällen, in denen der Provozierende die Notwehrsituation ohne Absicht schuldhaft herbeiführt. Da der Streit seit Jahrzehnten recht ausufernd geführt wird, im Folgenden ein Vorschlag zur Herangehensweise, um die zentralen Problemfragen in den Griff zu bekommen.
a) Zusammenhang: Vorverhalten – rechtswidriger Angriff
Zunächst ist zu klären, ob Vorverhalten und rechtswidriger Angriff in einem „engen räumlich-zeitlichen Zusammenhangs“ (vgl. Fischer StGB § 32, Rz. 44) stehen, d.h. der Angriff darf in seiner Art und Intensität nicht völlig unerwartet und „unverhältnismäßig“ zur Provokation sein. Abzustellen ist bei der Provokation daher auf einen Sachverhalt, der in der unmittelbaren Vergangenheit des Angriffs liegt und bis zum Angriff fortwirkt. Die Grenzen sind hier fließend. Provoziert der Täter jedenfalls ein ganz fernliegendes, atypisches Verhalten, das nach den Grundsätzen des allgemeinen Lebenserfahrung nicht zu erwarten war, fehlt ein entsprechender Zusammenhang und damit eine Ursächlichkeit des Täterverhaltens (vgl. BGH 5 StR 141/09).
b) Vorwerfbarkeit des Vorverhaltens
Ist das Verhalten des Täters im obigen Sinne ursächlich geworden, stellt sich die Frage, inwieweit das Vorverhalten isoliert betrachtet vorwerfbar ist. Das Öffnen einer Tür in dem Bewusstsein, das dahin möglicherweise der Angreifer lauert, kann noch keinen Vorwurf bilden, da es sich um ein tatbestandsloses, rechtlich erlaubtes Handeln handelt. Trotzdem würde sich der Angreifer durch das Öffnen angespornt fühlen, den Angriff auszuführen. Ausreichend? Nein, denn die übereinstimmend wird gefordert, dass die Provokation einen bestimmten Grad erreicht hat. Welcher dies sein soll, das ist umstritten.
Die Literatur verlangt zum größten Teil, dass das Vorverhalten jedenfalls rechtswidrig war, da in solchen Fällen der Verteidigende schon zu diesem Zeitpunkt den „Boden des Rechts“ verlassen habe (Rechtsbewährungsprinzip!) und das Privileg des § 32 StGB ausnahmsweise nicht mehr greifen kann. Nach der Rechtsprechung reicht es hingegen schon aus, wenn das Vorverhalten sozialethisch in seinem Gewicht einer schweren Beleidigung gleichkommt, also sozial zu missbilligen ist. Welcher Ansicht letztendlich zu folgen ist, bleibt dem Bearbeiter überlassen. Für die zweite Ansicht spricht, dass in der Realität die Gesamtumstände eine wichtige Rolle spielen und sich mehrere einzelne, lediglich moralisch zu beanstandende Verhaltensweisen zum Beispiel zu einem „provokativen Gesamtbild“ verdichten können.
Dabei werden aber auch hinzutretende Umstände in die Waagschale geworfen, zum Beispiel ob eine sog. Vor-Provokation (näher BGH 2 StR 118/10) des Angreifers stattgefunden hatte, sodass eine Vorwerfbarkeit ggf. ausscheidet:
Vater V begleitet seinen Sohn S zu dessen „Verabredung“ mit dem Intensivtäter H, von dem S „Schläge“ zu erwarten hat. V präpariert sich zur Sicherheit mit einem sog. Butterfly- Messer, das bei der anschließenden Notwehrlage auch zum Einsatz kommt.
Hier war die Notwehrsituation eine adäquate Folge des Vorverhaltens, V hat gewusst, dass eine Verteidigung mit hoher Wahrscheinlichkeit notwendig werden würde. Vorwerfbar? Der BGH sagt nein, V hatte allen Grund, seinen Sohn (!) zu unterstützen, der wiederholt von H bedroht worden war (Vorprovokation). Auch das Messer – übrigens ohne erforderliche Erlaubnis nach dem Waffengesetz – war in Ordnung.
c) Das Vorverhalten ist vorwerfbar – und jetzt?
Bei der Frage nach dem Maß der zulässigen Verteidigungshandlung, hat die Rechtsprechung seit jeher eine Gesamtbetrachtung im konkreten Einzelfall angewendet und sich Schwere der vorausgehenden Provokation orientiert (Stichwort: Drei-Stufen-Modell – Ausweichen, dann Schutzwehr, dann Trutzwehr), welches insgesamt Zustimmung gefunden hat. Die Absichtsprovokation die hierbei nicht einzubeziehen, da es dem Täter gerade auf die Verletzung des Angreifers ankommt und das Notwehrrecht schlichtweg missbraucht. Kann der unvorsätzlich Provozierende weder ausweichen, noch sich durch Trutzwehr des Angriffs erwehren, steht ihm jedes Verteidigungsmittel offen (SK-Joecks StGB § 32, Rz. 23). Die abgestufte Verteidigung sorgt jedenfalls auch bei den übrigen Fallgruppen im Rahmen der Gebotenheit für einen angemessenen Ausgleich zwischen der grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 32 StGB und dem – an sich fragwürdigen – völligen Entzug des Notwehrrechts.
c) Sonderfall: actio illicita in causa
Probleme ergeben sich dort, wo der Verteidigende an sich nach den obigen Grundsätzen gerechtfertigt und damit nicht strafbar wäre, er aber nichtsdestotrotz als alleiniger Veranlasser der Situation objektiv eine Sorgfaltspflicht verletzt hat, indem er sich der Notwehrlage pflichtwidrig ausgesetzt hat. Um ein entsprechendes Strafbedürfnis zu erfüllen, wird in solchen Fällen das passende Fahrlässigkeitsdelikt (z.B. § 229 StGB) geprüft. Die sog. actio illicita in causa beruht auf der Vorstellung, dass eine Provokation des Angreifers unmittelbar nicht stattgefunden hat, bzw. diese aufgrund der fehlenden Vorwerfbarkeit (Stichwort: Vor-Provokation, s.o.) nicht relevant geworden ist, die spätere Notwehrlage aber im Vorverhalten schon „angelegt“ war (ähnlich der sog actio libera in causa). Der Täter macht sich schließlich selbst zum „Werkzeug“ der späteren Tat, indem er sich fahrlässig in die Notwehrlage hineinbringt. Gegen diese Rechtsfigur lässt sich wohl einwenden, sie würde ein an sich gerechtfertigtes Verhalten dennoch unter Strafe stellen und letztendlich das Notwehrrecht „durch die Hintertür“ wieder einschränken. Auch ergeben sich Probleme bei der Vorverlagerung des Vorwurfs in der Frage nach dem Zurechnungszusammenhang zwischen der fahrlässigen Herbeiführung der Notwehrlage und dem eigentlichen Entschluss zur Verteidigung, der immerhin erst später gefasst wird. Für eine umfassende Übersicht, vgl. vgl. SK-Joecks StGB § 32, Rz. 26f.
IV. weitere wichtige Fallgruppen
Hauptunterschied zur Notwehrprovokation ist bei den anderen Fallgruppen der Gebotenheit wohl der Umstand, dass diese nicht auf ein bestimmtes Täterverhalten, sondern auf objektive Kriterien zurückzuführen sind, die bestimmte Konsequenzen für die Anwendung des § 32 StGB mit sich bringen.
1. Schuldlos Handelnde
Nach allgemeiner Ansicht ist der Angriff desjenigen, der nach seinen Fähigkeiten oder seinem Geisteszustand nicht dazu in der Lage ist (Geisteskranke, Kinder), das Unrecht zu erkennen, weniger verwerflich. Der Ausnahmetatbestand der Notwehrlage gebietet daher in solchen Fällen, dass der Angegriffene nur beschränkt Notwehr üben darf: Er hat vorwiegend Auszuweichen, soweit erforderlich den Angriff möglichst schonend abzuwehren und ggf. Hilfe anzufordern (MüKo/Erb § 32, Rz.185), es sei denn es besteht unmittelbare Lebensgefahr oder nicht unerhebliche, gesundheitliche Beeinträchtigungen sind zu befürchten. So auch bei Betrunkenen, wobei hier die Schwelle zur Schuldlosigkeit strenge Beachtung finden muss.
„Gegenüber irrenden Angreifern muss wenn möglich versucht werden, das Missverständnis aufzuklären“ (MüKo a.a.O.).
2. Näheverhältnis (Ehegatten, etc.)
Entgegen der früheren Rechtsprechung, kann allein aufgrund eines Eheverhältnisses keine „erweiterte Duldungspflicht“ im Rahmen des Notwehrrechts begründet. Dennoch ist im Einzelfall ein soziales Näheverhältnis geeignet, zumindest teilweise eine Einschränkung zu bejahen. Grenzfälle sind solche, bei denen die Gewalt gerade auf die Ausnutzung des Näheverhältnisses (Stichwort: häusliche Gewalt) gerichtet ist.
3. unerträgliches Missverhältnis („Bagatellangriffe“)
Grundsätzlich besteht ein Bedürfnis danach, dass der Verteidigende die angegriffenen Rechtsgüter erfolgreich verteidigen darf und soll. Der Grad der Verteidigung muss sich dabei nicht zwangsläufig nach der Intensität des Angriffs richten im Sinne einer „spiegelbildlichen“ Verteidigung, sondern es kommt das Mittel gerade recht, dass am erfolgsversprechendsten und ex ante am greifbarsten für die Abwendung des Angriffs in Frage kommt. Notwehrbefugnisse können daher auch Gewalt bishin die Tötung des Angreifers mitumfassen.
Anders jedoch in den Fällen (wie oben), in denen lediglich Sachgüter von geringem Wert beeinträchtigt werden und gegen den Rechtsinhaber keine Gewalt geübt wird.
T beobachtet, wie eine Person Kirschen vom in seinem Garten gelegenen Kirschbaum stiehlt. T, der die Verfolgung aufgrund einer Lähmung nicht aufnehmen kann, beschließt, den Dieb mittels Gewehr an dem Diebstahl zu hindern und trifft diesen tödlich.
Strafbarkeit des T?
Eine Notwehrlage ist gegeben, die Rechtsgutsbeeinträchtigung ist gegenwärtig und rechtswidrig, da der Diebstahl an den Kirschen noch andauert. Andere Mittel standen T wegen der Lähmung nicht zur Verfügung. T hat zudem in der Absicht gehandelt, den Angriff gezielt zu beenden. Jedoch war Notwehr an dieser Stelle nicht geboten. Abwehrmaßnahmen gegen Angriffe auf geringwertige Sachgüter sind dann unzulässig, wenn Leib oder Leben des Angreifers erheblich beeinträchtigt werden würde oder gar dessen Tod eine sichere Folge wäre. Die sog. Bagatellgrenze wurde nicht überschritten (vgl. zur „Unfugabwehr“ MüKo/Erb § 32, Rz. 190).
V. Fazit
Eine „klausurverdauliche“ Darstellung der einschlägigen Probleme der Notwehrprovokation ist herzlich schwierig, zu unterschiedlich sind die verschiedenen Begründungsmodelle. Sinnvoll erscheint, im Rahmen der Gebotenheit zunächst zwischen einer absichtlichen oder sonstwie verschuldeten Notwehrlage zu differenzieren. Erst im letzteren Fall stellen sich die Probleme des „räumlich-zeitlichen Zusammenhangs“ und anschließend der sozialen Mißbilligung des Vorverhaltens. Dazu in Bezug zu setzen ist die abgestufte Verteidigung, die regelmäßig herangezogen werden kann. Ist die Notwehr dennoch geboten, kann in der weiteren Prüfung der Strafbarkeit das passende Fahrlässigkeitsdelikt geprüft werden, in dem ggf. die a.i.i.c diskutiert werden kann. Wie immer gilt auch hier: Die zielgerichtete Auseinandersetzung mit den gängigsten Argumenten steht im Mittelpunkt einer Klausurbearbeitung oder mündlichen Prüfung. Eine allgemeingültige Lösung – betrachtet man allein schon den Umfang der Diskussion in der Praxis– wird im Rahmen einer Klausur kaum erwartet werden können.
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