Fahndung über das Internet / Facebook: Sind die §§ 131 ff. StPO noch verfassungsgemäß?
Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Dr. Jesko Baumhöfener veröffentlichen zu können. Der Autor ist als Strafverteidiger in Hamburg tätig. In seiner Kanzlei hat er sich unter anderem auf die Verteidigung im strafrechtlichen Revisionsverfahren spezialisiert.
Die Möglichkeiten zur Öffentlichkeitsfahndung nach einem Tatverdächtigen haben sich aufgrund der technischen Entwicklung verändert. Herkömmliche Methoden wie Steckbriefe, Ausschreibungen in Tageszeitungen oder Fahndungen bei „Aktenzeichen XY….ungelöst“ weichen der mit deutlich weniger Aufwand durchführbaren Fahndung über das Internet.
Die Ermächtigungsgrundlage für alle Öffentlichkeitsfahndungen nach einem Tatverdächtigen ist mit § 131 b StPO dieselbe; mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen für den Verfolgten. Die Fahndung mittels Steckbrief ist durch Abhängen desselben beendet. Die Fahndung über das Fernsehen mit deren Ausstrahlung. Die Tageszeitung von gestern ist heute vergessen. Im Gegensatz hierzu endet die Öffentlichkeitsfahndung über das Internet quasi nie. Einmal eingestellte Informationen über den Tatverdächtigen unterliegen nicht mehr der Kontrolle der Ermittlungsbehörden, sondern können sich durch Teilen und Hochladen aufklärungsgeneigter Bürger in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Weblogs verselbständigen und perpetuieren.
Sollte sich das Recht der technischen Entwicklung wegen der durch sie ermöglichten Strafverfolgungseffizienz beugen?
Fahndung über das Internet erfreut sich großer Beliebtheit
Polizeibehörden verschiedener Bundesländer setzen verstärkt auf Öffentlichkeitsfahndungen über das Internet. Nach einem Pilotprojekt der Polizeidirektion Hannover, bei dem Fahndungen direkt bei Facebook eingestellt waren und ein Foto oder eine Phantomskizze des Tatverdächtigen sowie eine ausführliche Sachverhaltsbeschreibung auf Facebook erschienen, kamen datenschutzrechtliche Bedenken auf, weil der Sever von Facebook sich nicht in Deutschland, sondern den USA befindet. Hiernach sind beispielsweise die Polizeidirektion Hannover, das Landeskriminalamt Niedersachsen und andere Polizeibehörden und Landeskriminalämter, dazu übergangen, auf ihren Facebook-Seiten nur noch einen sogenannten „Teaser-Text“ zu veröffentlichen, mit dem noch keine Personenbeschreibungen preisgegeben werden, sondern lediglich allgemeine Informationen zum Tatablauf. Außerdem wird das Fahndungsfoto des oder der Tatverdächtigen lediglich verpixelt angezeigt. Eine Identifizierung ist auf der Facebook-Seite insofern noch nicht möglich. Erst wenn man dem Link folgt, der – um im Beispiel zu bleiben – auf die Internetseite der Polizeidirektion Hannover führt, bekommt man detaillierte Informationen zum Tatablauf und zu den Tatverdächtigen. Erst hier erscheint ein Foto oder Phantombild des oder der Tatverdächtigen auch unverpixelt.
Die Delikte, derentwegen die Fahndungen durchgeführt werden, sind ganz unterschiedlicher Natur. So tauchen Fahndungsmeldungen über Kapitalverbrechen ebenso auf wie beispielsweise einfache Diebstahls- oder Betrugstaten sowie Fahndungen nach Reifenstechern. Aktuell sucht die Polizeidirektion Hannover mit Hilfe eines Bildes aus einer Überwachungskamera beispielsweise einen (deutlich erkennbaren) Mann, der versucht hat in einem Bekleidungsgeschäft mit einer gefälschten Kreditkarte Bekleidung im Wert von über 3.000,00 Euro zu erhalten (hier einsehbar).
Zu berücksichtigen ist, dass die Verwendung der Fahndungsmeldung und damit auch der Abbildung des Tatverdächtigen im Prozess der sozialen Vernetzung für die Polizei kaum vorhersehbar und nur eingeschränkt kontrollierbar ist. Zwar hat die Polizei an den betreffenden Bildern auf der polizeilichen Internetseite das alleinige Nutzungsrecht. Dies kann allerdings nicht die Übernahme der Abbildung, z.B. in ein soziales Netzwerk oder einen Weblog, verhindern. Die Bürger machen von dieser Möglichkeit des Teilens oder Verlinkens polizeilicher Fahndungen regen Gebrauch. Es braucht eigentlich nicht darauf aufmerksam gemacht zu werden: Die Kopien von Fahndungsfotos und Fahndungstexten stehen, nachdem sie von Bürgern oder Onlineredakteuren ins Netz gestellt wurden, wiederum Dritten zum Speichern und Hochladen zur Verfügung. Fahndungsfotos und Fahndungstexten verbreiten sich auf diese Weise rasant über das Netz.
Ermächtigungsgrundlage
Veröffentlichungen von Fahndungsbildern und Fahndungstexten eines Tatverdächtige über das Internet fallen, wie Fahndungsaufrufe im Fernsehen oder Zeitungen oder Veröffentlichen von Steckbriefen an Litfaßsäulen, unter § 131b Abs. 1 StPO. Die Zuständigkeit für die Anordnung einer Öffentlichkeitsfahndung im Internet richtet sich nach § 131c StPO. Die §§ 131 ff. StPO wurden mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 in die StPO implementiert, zu jener Zeit also als Boris Becker in einer Fernsehwerbung für das Internetstartpaket von AOL fragte: „Bin ich da schon drin, oder was?“
Verfassungsmäßigkeit von Fahndungen nach einem Tatverdächtigen über das Internet
Sind die 1999 geschaffenen Vorschriften zur Öffentlichkeitsfahndung (§ 131 Abs. 3, § 131 a Abs. 3, § 131 b, § 131c StPO) noch verfassungsgemäß, soweit damit auch Fahndungen nach einem Tatverdächtigen im Internet zugelassen werden? Oder hat das Gesetz hier mit der technischen Entwicklung nicht Schritt gehalten, so dass eine entsprechende Klarstellung durch den Gesetzgeber angezeigt ist?
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
Fahndungsmaßnahmen, die sich an die Öffentlichkeit richten, berühren das Grundrecht der Gesuchten auf informationelle Selbstbestimmung. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist allerdings nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne muss vielmehr solche Beschränkungen hinnehmen, die durch überwiegende Allgemeininteressen gerechtfertigt sind. Diese Beschränkungen bedürfen jedoch einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage, die insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss.
Verhältnismäßigkeit
Da hinsichtlich der formellen Verfassungsmäßigkeit der Regelung zur Öffentlichkeitsfahndung (Zuständigkeit, Verfahren, Zitiergebot) keine Bedenken bestehen müsste das Gesetz zur Öffentlichkeitsfahndung, soweit damit auch Fahndungen im Internet zugelassen sind, einem legitimen Zweck dienen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, das heißt zur Erreichung des Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Die Effektivierung der Strafverfolgung ist ein legitimer Zweck, der einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung grundsätzlich rechtfertigen kann. Es werden durch die Öffentlichkeitsfahndung im Internet außerdem Aufklärungsmöglichkeiten geschaffen, die sonst nicht bestünden und angesichts der zunehmenden Bedeutung des Internets unter Zurückdrängung der klassischen Medien in vielen Fällen erfolgversprechend sind. Ein milderes Mittel, welches ebenso weitreichende Aufklärungsmaßnahmen ermöglicht, ist nicht ersichtlich. Umfang und Geschwindigkeit der Verbreitung einer Fahndung steigern die Chancen auf Erfolg, welche online aus ermittlungstechnischer Sicht effektiver erfüllt werden kann. So sind auch die in der aktuellen Fassung der RiStBV unter dem Ordnungspunkt 1.2. der Anlage B vorgeschlagenen anderen Formen der Öffentlichkeitsfahndung, die den Tatverdächtigen weniger beeinträchtigen, wie der Einsatz von Plakaten, Handzetteln oder Lautsprecherdurchsagen, keine gleich geeigneten Mittel der Öffentlichkeitsfahndung. Sie erreichen jeweils nur eine begrenzte Anzahl an Personen und können sich nicht so schnell verbreiten wie eine Online-Fahndung.
Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn
Bei der im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne durchzuführenden Abwägung der widerstreitenden Interessen bieten höchstrichterliche Entscheidungen zur Zulässigkeit von Medienberichterstattungen über Straftaten gute Orientierung.
„Lebach“ und „Recht auf Vergessenwerden“
Die Lebach-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973 prägt die Rechtsprechung in diesem Sinne bis heute (BVerfG, NJW 1973, 1226 (1229)).
Ausgehend davon, dass ein jeder „grundsätzlich selbst und allein bestimmen (darf), ob und wieweit andere sein Lebensbild im ganzen oder bestimmte Vorgänge aus seinem Leben öffentlich darstellen dürfen“, müsse nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ermittelt werden, ob eine grundsätzlich mögliche Einschränkung dieses Selbstbestimmungsrechts durch öffentliche Interessen gerechtfertigt sei. Zwar müsse, „wer den Rechtsfrieden bricht“, grundsätzlich auch dulden, dass „das von ihm selbst durch seine Tat erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit in einer nach dem Prinzip freier Kommunikation lebenden Gemeinschaft auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird.“ Eine wiederholte, nicht mehr durch das aktuelle Informationsinteresse gedeckte Fernsehberichterstattung über eine schwere Straftat wie dem der Entscheidung zu Grunde liegenden vierfachen Soldatenmord, sei jedoch dann unzulässig, wenn sie die Resozialisierung des Täters gefährde. „Die für die soziale Existenz des Täters lebenswichtige Chance, sich in die freie Gesellschaft wieder einzugliedern, und das Interesse der Gemeinschaft an seiner Resozialisierung gehen grundsätzlich dem Interesse an einer weiteren Erörterung der Tat vor.“
Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die zu medialen Berichterstattungen über Straftaten ergangen ist, hat sich maßgeblich an den Leitsätzen des „Lebach-Urteils“ orientiert und diese weiterentwickelt. Zusätzlich nimmt diese neuere Rechtsprechung bei Abwägung der widerstreitenden Interessen auch die Gefahr in den Blick, dass die Öffentlichkeit die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetze und deshalb auch im Fall einer späteren Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf „etwas hängenbleibt“ (Vgl. nur BVerfG, NJW 2006, 2835). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht in seiner Diktion bereits stark in die Richtung eines jüngst vom EuGH geprägten „Rechts auf Vergessenwerden“ (EuGH, NJW 2014, 2257 (2264)).
„Apollonia-Prozess“
Das überwiegende Interesse der breiten Öffentlichkeit an spektakulären Kapitalverbrechen nahm der Bundesgerichtshof im Rahmen des sogenannten „Apollonia-Prozesses“ zum Anlass, zu Ungunsten des Klägers zu entscheiden. Der Kläger begehrte von der Beklagten, dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“, es zu unterlassen, in einem kostenlosen Online-Archiv über seine Taten (Mord in zwei Fällen und versuchter Mord in einem Fall) zu berichten. Bei der Eingabe des vollen Namens des Klägers werden – auch über „Google” – die Berichte an den ersten Stellen angezeigt (BGH, GRUR 2013, 200).
Seine Entscheidung begründete der Bundesgerichtshof damit, dass ein anerkennenswertes Interesse der Öffentlichkeit nicht nur an der Information über das aktuelle Zeitgeschehen bestehe, sondern auch an der Möglichkeit, vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse anhand der unveränderten Originalberichte in den Medien zu recherchieren. Der „Apollonia-Prozess” sei ein bedeutendes zeitgeschichtliches Ereignis eines spektakuläres Kapitalverbrechens, das untrennbar mit der Person und dem Namen des Klägers verbunden sei. In ähnlicher Weise würden viele Aufsehen erregende Kriminalfälle im Strafrecht unter dem Namen der Täter geführt. „Ein generelles Verbot der Einsehbarkeit und Recherchierbarkeit der Originalberichte bzw. ein Gebot der Löschung aller früheren, den Straftäter identifizierenden Darstellungen in Online-Archiven würde dazu führen, dass Geschichte getilgt und der Straftäter vollständig immunisiert würde“. Auch weil „die Artikel als frühere Veröffentlichung im Spiegel erkennbar“ seien und „lediglich online zum Abruf bereitgehalten werden“, ein Auffinden somit eine gezielte Suche voraussetze, sei es zulässig, die Artikel im Online-Archiv vorzuhalten.
Damit bestätigte der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zu der Frage der Zulässigkeit identifizierender Berichte in Online-Archiven im Zusammenhang mit spektakulären Kapitalverbrechen. Bereits im Jahr 2010 war der Bundesgerichtshof in der sogenannten Sedlmayr-Mord Entscheidung ganz ähnlicher Auffassung (BGH, MMR 2010, 575).
Straftäter relative Personen der Zeitgeschichte
Nach den vom BGH aufgestellten Grundsätzen ist für das Vorhalten von Medienberichten über Straftaten in Online-Archiven unter Nennung des Namens und unter Veröffentlichung von Bildern des Tatverdächtigen somit Voraussetzung, dass es sich bei Straftaten nicht bekannter Persönlichkeiten um aufsehenerregende Fälle handelt. Diese dürfen dann auch über Jahre in Online-Archiven vorgehalten werden, wenn es sich um spektakuläre Kapitalverbrechen handelt und somit um bedeutende zeitgeschichtliche Ereignisse. Die Rechtsprechung des BGH geht damit weit in die Richtung, einmal zulässige Medienberichterstattungen über spektakuläre Kapitalverbrechen grundsätzlich nicht alleine aufgrund Zeitablaufs unzulässig werden zu lassen. So ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt, dass Straftaten zum Zeitgeschehen gehören und Straftäter relative Personen der Zeitgeschichte i.S.d. § 23 Kunsturhebergesetz (KUG) sind. Aufnahmen von ihnen unter Namensnennung und Berichte über ihre Straftaten dürfen grundsätzlich jedenfalls bei schweren und schwersten Straftaten veröffentlich werden.
Ob die sich verfestigende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Zusammenhang mit Online-Archiven allerdings mit den Grundätzen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Lebach-Entscheidung aufgestellt hat und der EuGH mit seinem „Recht auf Vergessenwerden“ weiterverfolgt, in Einklang steht, ist sehr zweifelhaft, braucht vorliegend hingegen nicht entschieden zu werden.
Fahndung über das Internet
Bei den vom BGH („Apollonia“ oder „Sedlmayr“) zu Lasten des jeweiligen Klägers und seines Persönlichkeitsrechts entschiedenen Fällen bestünden im Falle einer Fahndung über das Internet bei vergleichbar schwerwiegenden Kapitalstraftaten keine Zweifel daran, dass die Strafverfolgung über das Internet mit all seinen Folgen für die spätere Auffindbarkeit Vorrang genießen würde vor dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Gesuchten. Ein Streitentscheid kann insofern dahinstehen.
Soweit die §§ 131 ff. StPO die Öffentlichkeitsfahndung nach einem Verdächtigen im Internet zulassen, erweisen sie sich jedoch angesichts der Möglichkeit für Polizeibeamte, bereits bei einem einfachen Tatverdacht einer mittelschweren Straftat ohne strengen Richtervorbehalt eine entsprechende Fahndungsmaßnahme zu ergreifen, gerade unter Zugrundelegung der vom Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof aufgezeigten Maßstäbe, als nicht mehr verhältnismäßig.
Gefahr eines nachhaltigen Reputationsschadens
Dem Tatverdächtigen eines – um im Beispiel zu bleiben – einfachen Kreditbetrugs oder einer einfachen Körperverletzung ist es nicht zuzumuten, dass eine ins Internet gestellte Öffentlichkeitsfahndung seinen Lebensweg auf Jahre bestimmen kann. Dadurch wird, sollte ihm die Tat, derer er verdächtigt wird, nachgewiesen werden, seine Reputation nachhaltig beeinträchtigt, da es heutigen Gepflogenheiten bei Freunden, Arbeitgebern oder Geschäftspartnern entspricht einen Menschen zu „googeln“.
Die genannten Straftaten aus dem Bereich der mittelschweren Kriminalität lassen auch eine Verurteilung zu einer Geldstrafe zu. So können die Folgen der Öffentlichkeitsfahndung den Verdächtigen faktisch mehr sanktionieren als der eigentliche, mögliche Strafausspruch. Auch bei demjenigen Tatverdächtigen, dessen Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts seitens der Staatsanwaltschaft eingestellt wird oder der nach durchgeführter Beweisaufnahme vom Gericht freigesprochen wird, besteht die Gefahr, dass trotz des Freispruchs aufgrund des im Internet ausgesprochenen Tatverdachts etwas hängen bleibt. Insofern gebietet „auch die bis zur rechtskräftigen Verurteilung zugunsten des Angeschuldigten geltende Vermutung seiner Unschuld (…) eine entsprechende Zurückhaltung“ (BVerfG, NJW 1973, S. 1226 (1230)).
Gefahr bei Gesetzgebung noch nicht absehbar
Die Folgen, die sich aus der Öffentlichkeitsfahndung für den Beschuldigten ergeben, waren 1999, als die §§ 131ff. StPO geschaffen wurden, noch nicht absehbar. Soziale Netzwerke im Internet existierten damals noch nicht. Facebook wurde erst im Jahre 2004 ins Netz gestellt. Weblogs von privaten Internetusern waren die Ausnahme. Der Zeitgeist um die Jahrtausendwende ging eher dahin, passiv im Internet zu konsumieren bzw. erst einmal Zugang zum Internet zu finden (s.h. Boris Becker: „Bin ich da schon drin, oder was?“) , als aktiv an der Gestaltung und Kommunikation teilzunehmen. Dies hat sich maßgeblich geändert. Wenn heute eine Fahndung im Internet mangels richterlicher Bestätigung erst eine Woche nach Veröffentlichung außer Kraft tritt (§ 131c Abs. 1 StPO), so ist das Bild des Beschuldigten samt Begleittext in den sozialen Medien theoretisch diverse Male um die Welt gegangen. Und in diesen Medien bleibt es auch und ist über eine gezielte Suche über eine Suchmaschine auf Jahrzehnte abrufbar.
Verhinderung der Verbreitung im Internet nicht möglich
Die Polizeibehörde oder Staatsanwaltschaft, die originär für die Verbreitung zuständig war, hat auch keine Möglichkeit, eine solche Verbreitung zu verhindern. Fotos und Fahndungstexte lassen sich leicht vervielfältigen und bleiben auch nach beendeter Fahndungsmaßnahme auffindbar. Die normative Kraft des Faktischen verhinderte in früheren Zeiten, dass Fahndungsplakate von einfachen Betrugstaten oder Körperverletzungen an Litfaßsäulen oder Postämtern befestigt wurden. Der Aufwand, auch bei mittelschwerer Kriminalität zu solchen Fahndungsmethoden zu greifen, wäre in Form des Herstellens, Auf- und Abhängens der entsprechenden Plakate zu groß gewesen. Insofern beschränkte man die Öffentlichkeitsfahndung auf schwere bzw. schwerste Kriminalität. Eine solche faktische Begrenzung ergibt sich bei der leicht umsetzbaren Öffentlichkeitsfahndung über das Internet nicht, wie durch die aktuelle Praxis der Polizeibehörden bewiesen wird.
Vorschriften zur Öffentlichkeitsfahndung nicht mehr verfassungsgemäß
Allein die Möglichkeit, durch die Öffentlichkeitsfahndung über das Internet effizienter zu ermitteln, kann nach alledem die oben genannte Gefahr des nachhaltigen Reputationsschadens für die Verdächtigen auch mittelschwerer Kriminalität nicht aufwiegen.
Die Vorschriften zur Öffentlichkeitsfahndung sind insofern, soweit damit auch Fahndungen nach einem Tatverdächtigen im Internet zugelassen werden, mangels Verhältnismäßigkeit nicht mehr verfassungsgemäß.
Dementsprechend wäre eine Revision der Ermächtigungsgrundlage zur Öffentlichkeitsfahndung über das Internet notwendig, um zukünftig nicht gänzlich auf diese effektive Ermittlungsmaßnahme zu verzichten.
Schlussbetrachtung
Das Persönlichkeitsrecht ist durch die heutige Nutzung des Internets leichter verletzbar geworden. Es liegt grundsätzlich in der Verantwortung jedes einzelnen Bürgers, wie er mit seinen Daten umgeht und welche er im Internet veröffentlicht.
Da, wo der Staat eine Rechtfertigung für den Zugriff auf den höchstpersönlichen Lebensbereich seiner Bürger schafft, sollte er sich seiner Vorbildfunktion gewahr sein. Wenn schon aufgrund staatlicher Legitimation die Schranken für einen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht derart durchlässig sind, wie nach aktueller Gesetzeslage in Form der Fahndung nach einem Tatverdächtigen über das Internet, was hat dann der verantwortungsvolle Umgang des Bürgers mit seinen Daten noch für einen Sinn.
Die Schranke, die gewährleistet, dass die Reputation der Bürger nicht nachteilig und nachhaltig beeinträchtigt wird, sollte nicht so leicht zu öffnen sein, wie nach derzeit geltender Gesetzeslage. Die 1999 geschaffenen Regelungen zur Öffentlichkeitsfahndung haben mit der technischen Entwicklung nicht Schritt gehalten.
„Das Recht darf sich (…) der technischen Entwicklung nicht beugen” (BVerfG, NJW 1973, 1226 (1229)). Die Worte des Bundesverfassungsgerichts haben Bestand. Heute wie damals. Insofern sollten sich die Regelungen zur Öffentlichkeitsfahndung im Internet der technischen Entwicklung anpassen.
Wenn § 131b StPO die Fahndung nur bei „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ erlaubt, darf dieser bei „mittelschwerer Kriminalität“ doch auch nach geltender Rechtslage nicht angewendet werden. Woraus soll die Verfassungswidrigkeit folgen?
Das habe ich in dieser „kurzen“ Variante meiner Ausführungen nicht weiter vertieft, sondern nur erwähnt, dass die Straftaten aus dem Bereich der mittelschweren Kriminalität auch eine Verurteilung zu einer Geldstrafe zulassen.
Das Problem:
Es reicht, wenn die Straftat aus dem Bereich der mittleren Kriminalität kommt, womit alle Straftaten angesprochen sind, die eine Strafrahmenobergrenze von über 2 Jahren haben. Danach scheiden lediglich Bagatelldelikte wie beispielweise Beleidigung als Auslöseverdacht von vornherein aus (nachzulesen in allen einschlägigen Kommentaren). Der Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung kann nur konkret anhand des Einzelfalles bestimmt werden. In die Abwägung dürfen generalpräventive Gesichtspunkte ebenso einfließen wie die Stärke des Tatverdachts oder die Art der Tatausführung, womit auch Serienstraftaten, bei denen sich die Erheblichkeit erst aus der Summe der Einzeltaten ergibt, angesprochen sind (z.B. KMR/Wankel, § 131b StPO, Rn. 2). Mit zunehmendem Tatverdacht senkt sich die Erheblichkeitsschwelle ab, so dass – wie im Beispiel gezeigt– auch Überwachungsbilder eines Tatverdächtigen, der sich unter Einsatz einer gefälschten Kreditkarte neu einkleidet oder eine einfache Körperverletzung als erhebliche Straftat in diesem Sinne gewertet werden können (vgl. AG Bonn, BeckRS 2008, 18552 bei Diebstahl und Betrug mit einem Schaden von 970,00 Euro).
Ich plädiere insofern für eine Revision der Ermächtigungsgrundlage zur Öffentlichkeitsfahndung über das Internet. Um die ausufernde, nicht mehr verhältnismäßige Öffentlichkeitsfahndung über das Internet einzugrenzen, wäre es angezeigt, den durch bestimmte Tatsachen begründeteren Verdacht einer schweren Straftat vorauszusetzen , wie beispielsweise in § 100a StPO für die Telekommunikationsüberwachung. § 100a StPO setzt eine näher aufgeführte schwere Katalogtat voraus wie beispielsweise eine Kapitalstraftat oder eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung die jeweils auch im Einzelfall schwer wiegen muss. Der oben angesprochene Kreditbetrug oder eine einfache Körperverletzung fielen aus diesem Raster bereits heraus.
Da ich gerade dabei bin:
Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann bei Ermittlungsmaßnahmen, die einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff bewirken, verfassungsrechtlich eine vorbeugende Kontrolle durch eine unabhängige Instanz geboten sein. Hier kann hingegen gemäß § 131c StPO die Fahndungsmaßnahme bei Gefahr im Verzug durch die Polizei angeordnet werden und muss erst innerhalb einer Woche bestätigt werden. Dem auf den Ermittlungserfolg zielenden Polizeibeamten fehlt in aller Regel die neutrale Souveränität des abwägenden Richters, von der eine solche Entscheidung (auf Öffentlichkeitsfahndung) getragen sein sollte. Insofern solle der strikte Richtervorbehalt zur Bedingung einer Öffentlichkeitsfahndung über das Internet gemacht werden, was zusätzlich dafür Sorge tragen würde, dass diese inflationäre Fahndungsmethode weit weniger zum Einsatz käme.
Deswegen ist die derzeitige Regelung meiner Ansicht nach 🙂 verfassungswidrig, soweit damit auch Internetfahndungen zugelassen werden und muss dringend angepasst werden.
Danke für die ausführliche Antwort!
Jedes Öffentlichmachen dürfte heutzutage die Möglichkeit mit sichbringen, dass sich die veröffentlichte Information zeitlich unbefristet im Internet verbreiten kann. Es kann ja etwa grds. jederzeit jemand nach einer strafprozessualen Hauptverhandlung dort gewonne Informationen ins Netz einspeisen etc, mit entsprechenden Folgerpoblematiken wie im Artikel erörert. Wenn man das problematisieren wollte, müsste man daher eigentlich im Grunde konsequenterweise das gesamte strafprozessuale Öffentlichkleitsprinzip hinterfragen wollen. Dies scheint allerdings zunächst allgemein als wichtiger strafprozessulaer Grundsatz, welcher nur in Ausmahmen begrenzbar scheint, wie etwa bei noch jugendlichen Strafttätern.
Es könnte sich also bei der Internetfahndung zwaqr möglicherweise der Schwere nach um eine mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigung handeln.
Diese könnte allerdings grds. ebenso bei leichteren Straftaten vom Grundsatz der Öffentlichkeit als strafprozessuale Grundmaxime, sowie der strafprozessualen Effektivität etc. noch angemessen ieS zu rechtfertigen sein.
Die im Artikel angesprochenen BGH-Urteile betrafen anscheinend etwas wie exponiertes erneutes Hervorheben von bereits länger öffentlich vorhandenen Informationen. Dagegen scheint nicht erstmailiges Öffentlichmachen von Informationen behandelt.
Insofern könnte es sich also um abweichende Sachverhaltsproblematiken handeln, so dass eine maßgebliche Argumentation mit solchen BGH-Urteilen im hier fraglichen Zusammenhang etwas irreführend bleiben könnte.