Erfolgsaussichten und Prüfungsrelevanz der Verfassungsbeschwerde im NSU-Verfahren
Die türkische Zeitung „Sabah“ hat am 5.4.2013 Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben, um eine Verletzung ihrer Grundrechte geltend zu machen (s. nur hier). Das Vorgehen des OLG München im NSU-Prozess hinsichtlich der Vergabe von Presseplätzen ist wegen der fehlenden Berücksichtigung türkischer Medien in der letzten Woche stark in die Kritik geraten. Aufgrund der Thematik und ihrer Aktualität bietet sich das Verfahren als Aufhänger einer Grundrechtsprüfung an und war bereits letzte Woche im Hinblick auf §§ 169, 176 GVG Prüfungsgegenstand einer mündlichen Prüfung am OLG Köln. Insoweit sollte man sich vor einer anstehenden mündlichen Prüfung auf dieses Thema einstellen. Dieser Beitrag soll hierbei helfen, indem er Schwer- und Problempunkte der Prüfung einer Verfassungsbeschwerde aufzeigt, ohne diese schulbuchmäßig durchzuprüfen (was in einer mündlichen Prüfung idR auch nicht der Fall sein wird).
A. Zulässigkeit einer VfB nach Art. 93 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90, 92ff. BVerfGG
I. Beschwerdefähigkeit, § 90 BVerfGG
Im Verfassungsbeschwerdeverfahren ist „Jedermann“ beschwerdefähig, also jeder Träger von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten. Die Sabah ist eine juristische Person des Privatrechts, so dass die Voraussetzungen von Art. 19 III GG zu prüfen sind. Die Sabah ist eine türkische Zeitschrift, so dass das Merkmal „inländisch“ fraglich sein könnte. Allerdings hat sie eine deutsche Dependence, die nach deutschem Recht eingerichtet ist (GmbH), so dass diese eine inländische juristische Person ist. Insoweit könnte sich die Frage nach der Weite des Begriffs „juristische Person“ anschließen, der, anders als im einfachen Recht, auch Personengesellschaften (GbR, OHG, KG) umfasst und daher weiter ist. Auch könnte hier eine europarechtliche Frage folgen, wenn man die Zeitung bspw. nach Frankreich verlegte ohne Tochtergesellschaft in Deutschland (eingehend unser Beitrag hierzu).
Somit ist die Sabah beschwerdefähig nach § 90 BVerfGG.
II. Beschwerdegegenstand, § 90 BVerfGG
Die Ablehnung durch das Gericht ist ein Akt öffentlicher Gewalt, hier der Exekutive (nicht der Judikative! Hier wird Verwaltungstätigkeit wahrgenommen!).
III. Beschwerdebefugnis, § 90 BVerfGG
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Als möglicherweise verletzte Grundrechte kommen Art. 5 I 2 Var. 1 GG (Pressefreiheit) in Betracht sowie Art. 3 I, III GG und Art. 12 GG. Diese müssten wesensmäßig auf jur. Personen anwendbar sein, Art. 19 III GG sein.
Hinsichtlich der Pressefreiheit ist auch schon die Informationsbeschaffung geschützt, das heißt hier der Zutritt zum Gericht. An dieser Stelle könnte man schon die Frage aufwerfen, ob Art. 5 I 2 Var. 1 GG überhaupt davor schützt, nicht zu einem bestimmten Ort (hier Gerichtssaal) zu gelangen. Im Rahmen der Beschwerdebefugnis, an dem nur die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung geprüft wird, sollte ein Hinweis darauf genügen, dass die fehlende Zulassung die Pressearbeit zumindest erschwert, weswegen eine Verletzung zumindest in Betracht kommt bzw. nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Auch ein Hinweis auf den status positivus kann hier erfolgen.
Auch kommt eine Verletzung von Art. 12 GG in Betracht.
Bei Art. 3 I, III GG stellt sich die spannende Frage, wer sich eigentlich auf dieses Grundrecht beruft: Stellt man auf die juristische Person selbst ab, die ja, wie dargestellt, inländisch ist, kann schon keine Ungleichbehandlung zu anderen inländischen juristischen Personen wegen der Herkunft vorliegen. Wählt man den Ansatz des Schutzes der natürlichen Personen hinter der juristischen Person, kommt vorliegend ein Verstoß gegen Art. 3 I, III GG insofern in Betracht, als dass die vorwiegend bzw. ausschließlich türkischstämmigen Mitglieder benachteiligt werden könnten. Hier ist der häufig im Ergebnis irrelevante Streit, was Art. 19 III GG schützt (Stichwort: grundrechtstypische Gefährdungslage vs. Schutz der dahinter stehenden natürlichen Personen), somit ausnahmsweise relevant.
2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar
IV. Rechtswegerschöpfung, § 90 II BVerfGG
Vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde ist der Rechtsweg zu erschöpfen, § 90 II BVerfGG. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass es gegen Sitzungsverfügungen eines Gerichts nach h.M. keinen Rechtsweg gibt.
Würde man einen solchen dennoch annehmen, stellte sich die Frage, ob ausnahmsweise auch ohne Erschöpfung eines vorhandenen Rechtsweges die Verfassungsbeschwerde zulässig ist. Hier müsste auf § 90 II 2 BVerfGG rekurriert werden, der zwei Varianten hat.
Die allgemeine Bedeutung könnte man argumentativ damit herleiten, dass Sitzungsverfügungen wegen Platzmangels häufiger auftreten und hierzu keine Rechtsprechung vorhanden ist. Hinzu tritt die starke öffentliche Aufmerksamkeit für den NSU-Prozess, der sich in der umfangreichen Berichterstattung widerspiegelt.
Auch schwere, unabwendbare Nachteile könnten im Hinblick auf den bevorstehenden Beginn des Prozesses angenommen werden (vgl. auch § 32 BVerfGG), da dann die Pressefreiheit schon beschränkt wäre.
V. Subsidiarität
Hier kann auf den Rechtsgedanken von § 90 II 2 BVerfGG abgestellt werden.
B. Begründetheit
I. Art. 5 I 2 Var. 1 GG
Zunächst könnte man fragen, ob es sich hier tatsächlich um ein grundrechtliches Abwehrrecht geht oder nicht vielmehr um den status positivus; an dieser Stelle könnte dann die Frage nach der Statuslehre nach Jellinek folgen (weitergehend auch dessen 3-Elementenlehre).
Hier möchte die Sabah zugelassen werden, so dass eine Orientierung am Leistungskern des Grundrechtes nahe liegt. Hier kann eine Entscheidung offenbleiben:
– Knüpft man an den status positivus an, muss der Staat dem Presseorgan die Teilhabe an der Berichterstattung ermöglichen, wobei ihm ein weiter Ermessensspielraum zusteht. Hier müsste dann eine Überprüfung des Auswahlverfahrens anhand einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der staatlichen Einschätzungsprärogative erfolgen (dazu sogleich).
– Knüpft man an den status negativus an, darf der Staat dem Presseorgan den Zutritt zum Gericht nur aus sachlichen, verfassungskonformen Gründen verwehren. Dies könnte hier die Sitzplatzerschöpfung sein, welche aber nur dann als Rechtfertigung dienen kann, wenn sie unter Berücksichtigung aller grundrechtlich zu schützenden Belange erreicht worden ist. Hier hat dann die gleiche Überprüfung der Ermessensentscheidung des Gerichts und dessen Vergabepraxis zu erfolgen.
Die Vergabepraxis erfolgte ausschließlich nach dem Prioritätsprinzip, auch Windhundprinzip genannt. Fraglich ist, ob dieses den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein faires Vergabeverfahren genügt.
An dieser Stelle kann zunächst allgemein die Verfassungsmäßigkeit des reinen Prioritätsprinzips geprüft werden. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass bei ausreichender Hinweisfrist durch das Gericht eine Vergabe nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ verfassungskonform ist. Weder werden bestimmte Personenkreise von vornherein ausgeschlossen, noch stellt die Unterscheidung nach zeitlichem Eingang ein besonderes Hindernis dar; es ergibt sich schlichtweg aus der beschränkten Kapazität. Nun könnte man andere Verfahren wie ein Losverfahren andenken; allerdings verwirklicht dieses die Pressefreiheit nicht besser. Im Gegenteil könnten Medien zugelassen werden, die sich erst sehr spät um eine Akkreditierung bemüht haben.
Im NSU-Verfahren war jedoch mit einem erhöhten Interesse ausländischer Medien zu rechnen, sodass sich als weiteres Auswahlkriterium eine Zwei-Pool-Lösung angeboten hätte: Bspw. 20% der Sitze hätten sicher an ausländische oder gar türkische Medien vergeben werden können (hierzu schon eingehend unser Beitrag der letzten Woche). Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass das Prioritätsprinzip daher grundsätzlich auch als alleiniges Auswahlkriterium wohl verfassungskonform ist.
Nun muss es aber auch im Einzelfall korrekt angewendet worden sein. Hierzu muss eine umfassende Würdigung des Sachverhaltes erfolgen. Soweit er hier vorliegt (s. die sehr ausführliche und aufschlussreiche Sachverhaltsdarstellung im Tagesspiegel), lässt sich Folgendes sagen:
Die Sabah ist eine inländische juristische Person und muss sich daher grundsätzlich am gleichen Maßstab messen lassen wie andere inländische Presseorgane. Zunächst konnte man davon ausgehen, dass die Sabah schlichtweg den Akkreditierungsstart versäumt hatte. Dieser Obliegenheitsverstoß schien daher eine verfassungswidrige Anwendung im Einzelfall auszuschließen. Das Prioritätsprinzip soll doch gerade verhindern, dass nach und nach Anmeldungen erfolgen, die dann eine Zuweisung erschweren. Auch ist es zunächst am Grundrechtsträger selbst seinen Obliegenheiten nachzukommen, um von seinen Grundrechten Gebrauch machen zu können. Zudem könnte auf die Gefahr einer Revision wegen einer erneuten Sitzplatzvergabe wegen Befangenheit der Richter hingewiesen werden.
Hiergegen könnte man zunächst anführen, dass alleine die Einfachheit der Vergabe kein Argument sein kann; der Staat muss auch Schwierigkeiten auf sich nehmen, um den grundrechtlichen Teilhaberechten zu genügen. Zudem können nicht mit Hinweis auf einen späteren Revisionsgrund Fakten geschaffen werden. Hinzu kommt, dass aufgrund des für die türkischen Medien brisanten Themas der Verhandlung auf jeden Fall für diese Medien Sitzplätze vorhanden sein müssten. Die Pressefreiheit muss sich immer auch an tatsächlichen Gegebenheiten messen lassen. Werden durch die konkrete Anwendung eines Auswahlprinzips de facto bestimmte Medien ausgeschlossen, ist dieses im Einzelfall nicht mehr verfassungskonform.
Nun häufen sich nämlich die Hinweise, dass das tatsächliche Vergabeverfahren fehlerhaft war (s. hierzu den tagesspiegel; von einem anderen Sachverhalt ging insofern noch unser vorheriger Beitrag aus). Anscheinend wurde durch fehlende oder fehlerhafte Information die Sabah verhindert, dass diese rechtzeitig einen Akkreditierungsantrag stellt, während deutsche Medien umfassender und frühzeitiger informiert waren. Insoweit läge ein Verstoß gegen die Hinweispflicht bzgl. des Anmeldestarts vor (technische Fehler; falsche Auskünfte usw.)
Sollte dies tatsächlich der Fall gewesen sein, genügt das Vergabeverfahren im Einzelfall nicht mehr dem Gebot der Sachlichkeit und ist verfassungswidrig.
Damit ist die Sabah unter Zugrundelegung dieses Sachverhaltes in ihrem Grundrecht aus Art. 5 I 2 Var. 1 GG verletzt.
II. Art. 3 I, III GG
Zunächst muss hier der Streit aus der Beschwerdebefugnis aufgegriffen werden (s.o.). Sieht man hier Art. 3 I, III GG hinsichtlich des Merkmals Herkunft wegen der hinter der Sabah stehenden natürlichen Personen als anwendbar an, stellt sich die Frage, ob hier wesentlich Gleiches ungleich bzw. wesentlich Ungleiches gleich behandelt worden ist. Hier wurden zwar alle Presseorgane hinsichtlich der Akkreditierung nach dem Prioritätsprinzip gleich behandelt; im Vorfeld wurde aber unterschiedlich und zum Teil widersprüchlich informiert. Somit liegt eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vor. Knüpft diese an die Herkunft an (was hier freilich noch nicht geklärt erscheint), ist diese Anknüpfung an ein verpöntes Merkmale des Art. 3 III unabhängig von einer Verhältnismäßigkeits- oder Willkürkontrolle grundsätzlich unzulässig. Ausnahmsweise kann jedoch wegen der Ähnlichkeit zu personenbezogenen Merkmalen eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen, sog. Neue Formel. Hier genügt die unterschiedliche Behandlung jedoch schon nicht dem Gebot der Sachlichkeit (Willkürverbot s.o.), sodass das Vorgehen des Gerichts verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen ist.
Somit liegt auch ein Verstoß gegen Art. 3 III GG vor.
III. Art. 12 GG
Dieser wird von der spezielleren Pressefreiheit vorliegend verdrängt, Art. 5 I 2 Var. 1 GG.
C. § 32 Einstweilige Anordnung
Die Sabah hat zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG gestellt. Bei dieser sind ihm Rahmen einer doppelten Nachteilsabwägung die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg hätte, abzuwägen mit denen, dass die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg hätte, die einstweilige Anordnung aber erginge.
Aufgrund der Komplexität verfassungsrechtlicher Fragen erfolgt hier anders als bei der nur in tatsächlicher Hinsicht summarischen Prüfung im Verwaltungsgerichtsverfahren idR keine tiefgehende inhaltliche rechtliche Prüfung.
D. Fazit
Der Fall der Sabah bietet somit jede Menge Anknüpfungspunkte für eine mündliche Prüfung und sollte daher vorher schon einmal durchdacht sein, um dann einfacher auf richtige Ergebnisse und vor allem eine gute Argumentation zu kommen.
Die Verfassungsbeschwerde ist keineswegs so aussichtslos, wie dies im Vorfeld schien. Sollte sich als wahr erweisen, dass die Sabah verspätet über den Akkreditierungsbeginn informiert wurde und aus diesem Grund eine Anmeldung erschwert war, so verstoßen diese Modalitäten gegen die Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1, 3 GG und 5 Abs. 1 GG.
Sabah macht laut SZ-Artikel geltend, dass sie die Mail vom OLG „erst“ nach 19 Minuten bekommen haben. Mal von der Frage abgesehen, ob die deutsche Niederlassung (Konzernmutter in der Türkei: Art. 19 Abs. 3 GG!) einer türkischen Zeitung noch für sich geltend machen kann eine türkische Zeitung zu sein, da sie den deutschen Markt türkischer Leser bedienen möchten, stellen sich auch noch die Fragen, inwieweit die Ungleichbehandlung (so denn in einem Mailing eigentlich schon per se eine Ungleichbehandlung liegen müsste, da die Mails nicht parallel gleichzeitig abgeschickt werden) tatsächlich „ausreicht“. Insgesamt ein eher dünner Artikel 🙁
Heute ist beim Bundesverfassungsgericht eine weitere Verfassungsbeschwerde gegen die Platzvergabe im NSU-Prozess eingegangen. Rechtsanwalt Erdal (Hannover) hat sie im Namen des Journalisten und Autors Ulf. G. Stuberger (Pressebüro Kalrsruhe) erhoben. Stuberger, der schon seit den 1970er Jahren von Terrorprozessen berichtet und auch den “Buback-Prozess” am OLG Stuttgart begleitet hat, fühlt sich durch das Akkreditierungsverfahren in seinen Grundrechten verletzt.
Zwar hat Stuberger einen der 50 festen Plätze im Verhandlungssaal bekommen, kann diesen aber nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrnehmen. Auch seine ebenfalls akkreditierte Ehefrau ist demnach erkrankt. Deshalb wollte Stuberger einen Vertreter benennen, das Oberlandesgericht München habe dies aber abglehnt. https://www.swr.de/blog/terrorismus/2013/04/09/weitere-verfassungsbeschwerde-gegen-akkreditierungsverfahren-im-nsu-prozess/