Die hypothetische Einwilligung
Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Virginie Best veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Studentin der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn.
I. Einleitung
Ihren Ursprung hat die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung im Zivilrecht. Ihrem Sinn und Zweck nach soll sie dort den ausufernden Arzthaftungsrisiken infolge vermeintlich überspannter Aufklärungspflichten entgegenwirken, welche besonders das Risiko missbräuchlicher Berufungen auf Aufklärungsmängel zu Haftungszwecken bergen. So enthält § 630h Abs. 2 BGB eine spezielle Beweislastregelung. Grundsätzlich hat der Behandelnde zu beweisen, dass er eine Einwilligung gemäß § 630d BGB eingeholt und den Patienten entsprechend den Anforderungen in § 630e BGB aufgeklärt hat. Genügt die Aufklärung diesen Anforderungen nicht, war die Aufklärung also mangelhaft, so kann der Behandelnde sich darauf berufen, dass der Patient auch im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die medizinische Maßnahme eingewilligt hätte. Beweispflichtig hierfür wird der Arzt jedoch erst dann, wenn der Patient zuvor darlegt, dass er sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung aus ex ante Perspektive zum damaligen Zeitpunkt – also in Unkenntnis des anschließenden tatsächlichen Behandlungsverlaufs – in einem ernsthaften Entscheidungskonflikt befunden hätte (Förster, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, 63. Ed. 01.08.2022, § 823 Rn. 929).
II. Übertragung ins Strafrecht
Die hypothetische Einwilligung spielt nicht nur im Zivilrecht eine Rolle. Mit Blick auf die Einheit der Rechtsordnung könne ein Verhalten, das zivilrechtlich keine Haftung begründet, schwerlich strafbar sein. Diese Erwägung zugrunde gelegt, übertrug der BGH die Rechtsfigur in seiner „Surbigone-Dübel“-Entscheidung aus dem Jahre 1995 erstmalig ins Strafrecht. Aufgrund der Verschiedenheit der beiden Rechtsgebiete und der Eigenheiten der hypothetischen Einwilligung, ist dabei zunächst zweierlei zu berücksichtigen.
1. Abgrenzung zur mutmaßlichen Einwilligung
Zum einen bedarf es einer Abgrenzung zur Figur der mutmaßlichen Einwilligung. Diese ist subsidiär, kommt also nur dann zum Tragen, wenn eine tatsächlich erklärte Einwilligung des Patienten nicht eingeholt werden konnte und ein Wahrscheinlichkeitsurteil über den individuellen Willen des Betroffenen ergibt, dass dieser mit dem Eingriff einverstanden gewesen wäre. In Fällen der hypothetischen Einwilligung liegt hingegen eine ausdrückliche Erklärung des Betroffenen vor, die jedoch infolge des Aufklärungsfehlers unwirksam ist und den Rechtsgutseingriff nicht rechtfertigen kann. Während bei der mutmaßlichen Einwilligung also überhaupt keine Erklärung des Patienten vorliegt, weil diese uneinholbar war und auf den mutmaßlichen Willen des Patienten abgestellt werden muss, heilt die hypothetische Einwilligung die Mängel einer tatsächlich abgegebenen Erklärung. Bedarf für die hypothetische Einwilligung besteht also dann, wenn eine mutmaßliche Einwilligung daran scheitert, dass eine hinreichende Aufklärung des Betroffenen möglich gewesen wäre, es mithin an der Subsidiarität fehlt (Sowada, NStZ 2012, 1 (4 ff.)).
2. Keine Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Beweislastregeln
Zum anderen gelten die zivilrechtlichen Beweislastregeln im Strafrecht nicht. Aus dem in dubio pro reo Grundsatz folgt, dass der Täter nicht beweisen muss, dass der Betroffene hypothetisch eingewilligt hätte, vielmehr ist von einer hypothetischen Einwilligung und damit der Straflosigkeit des Täters auszugehen, sofern sich nicht zweifelsfrei ergibt, dass der Betroffene bei lückenloser Aufklärung keine Einwilligung erteilt hätte.
III. Tatbestandliche Einordnung
In der praktischen Anwendung stellt sich die Frage nach der Rechtsnatur der hypothetischen Einwilligung, die insofern Klausurrelevanz beansprucht, als dass sie über den Aufbau der gutachterlichen Prüfung entscheidet.
Denkbar sind hier mehrere Möglichkeiten, von denen im Folgenden zwei dargestellt werden sollen, die beide auf der Rechtswidrigkeitsebene ansetzen. Diese Einordnung ist keineswegs unumstritten, daneben wird beispielsweise auch die Verortung bereits innerhalb der objektiven Zurechnung auf Tatbestandsebene oder die Behandlung als Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrund erwogen (Jansen, ZJS 6/2001, 482 (484, 488)).
1. Anerkennung als eigenständiger Rechtfertigungsgrund
In der gutachterlichen Prüfung kommt zunächst die Prüfung der hypothetischen Einwilligung als eigenständiger Rechtfertigungsgrund im Rahmen der Rechtswidrigkeit der Tat in Betracht. Hierfür spricht in erster Linie, dass es sich sowohl bei der ausdrücklichen als auch bei der mutmaßlichen Einwilligung um eigenständige Rechtfertigungsgründe handelt und die hypothetische Einwilligung zumindest, trotz ihrer Unterschiede, eine Nähe zu beiden Instituten aufweist. Dagegen lässt sich jedoch einwenden, dass so der – im Interesse der Patientenautonomie geltende – Vorrang der ausdrücklichen Einwilligung nicht mehr gewahrt wird. Während die mutmaßliche Einwilligung im Verhältnis zur ausdrücklichen Einwilligung subsidiär ist und somit nicht greift, wenn eine ausdrückliche Einwilligung hätte eingeholt werden können, besteht bei der hypothetischen Einwilligung keine derartige Vorrangregelung. Vielmehr kommt sie auch dann zum Zuge, wenn eine ausdrückliche Willensäußerung des Patienten vorliegt (Swoboda, ZIS 1/2013, 18 (26); Sowada, NStZ 2012, 1 (5)). Zudem ist das für Rechtfertigungsgründe konstitutive subjektive Rechtfertigungselement bei der hypothetischen Einwilligung fraglich, denn dafür müsste der Behandelnde wissen, dass der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung einwilligen würde und auf dieser Grundlage die medizinische Maßnahme vornehmen. Dies erscheint sachfremd, denn wäre das der Fall, so hätte er von Vorneherein richtig aufgeklärt (Böcker, JZ 2005, 925 (927); Wiesner, Die hypothetische Einwilligung im Medizinstrafrecht, 2010, S. 99).
Auch der BGH behandelt die hypothetische Einwilligung auf Rechtwidrigkeitsebene. Gleichwohl lassen sich den entsprechenden Urteilen auch Andeutungen entnehmen, Überlegungen zum Pflichtwidrigkeitszusammenhang von der Tatbestandsebene auf die Rechtswidrigkeitsebene zu übertragen. Derartige Überlegungen finden sich bei anderen Rechtfertigungsgründen nicht. Ob es sich also um einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund handelt, lässt sich der Rechtsprechung keineswegs eindeutig entnehmen, vielmehr lassen die Ausführungen unterschiedliche Deutungen zu (Wiesner, Die hypothetische Einwilligung im Medizinstrafrecht, 2010, S. 97; Jansen, ZJS 6/2001, 482 (485)). Diese ambivalente Konstruktion des BGH und seine Zurückhaltung hinsichtlich einer klaren dogmatischen Einordung stößt in der Literatur zum Teil auf starke Kritik und erschwert es erheblich der hypothetischen Einwilligung eine eindeutige Rechtsnatur zuzuweisen (Swoboda, ZIS 1/2013, 18 (21 f.)).
2. Übertragung des Ausschlusses der normativen Erfolgszurechnung auf die Rechtswidrigkeitsebene
Wie gesehen lässt sich die Rechtsprechung des BGH auch so verstehen, dass dieser im Rahmen der hypothetischen Einwilligung den Ausschluss der normativen Erfolgszurechnung von der Tatbestandsebene auf die Rechtswidrigkeitsebene übertragen will. Zur Veranschaulichung dieser dogmatischen Konstruktion sollen im Folgenden noch einmal die entsprechenden Grundlagen der Erfolgszurechnung dargestellt werden:
Die objektive Zurechnung begrenzt bereits auf Tatbestandsebene die uferlose Kausalität durch normative Kriterien. Dabei spielt insbesondere der Pflichtwidrigkeitszusammenhang im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte eine wesentliche Rolle. Hierbei geht es um die Frage, ob sich im konkreten tatbestandlichen Erfolg eben jenes rechtlich missbilligtes Risiko verwirklicht hat, das der Täter durch seine Sorgfaltspflichtverletzung gerade geschaffen hat. Nur dann ist ihm der Erfolg objektiv zurechenbar (Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder Kommentar zum StGB, 30. Aufl. 2019, § 15 Rn. 156). Insoweit ist zu prüfen, ob der Erfolg auch bei unterstelltem pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Ergibt diese Prüfung, dass auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten der konkrete Erfolg eingetreten wäre, so ist die Anwendung des Strafrechts, dessen Zweck im Rechtsgüterschutz liegt, nicht geboten, sondern vielmehr unangemessen. Für den Täter war die Tatbestandsverwirklichung nicht vermeidbar, sodass eine auf Verhaltensveränderung abzielende Sanktionierung ihre Wirkung schlechterdings nicht erreichen könnte (Sowada, NStZ 2012, 1 (5)). Mithin scheidet eine Strafbarkeit nach herrschender Meinung in derartigen Fällen aus. Zum Teil wird jedoch vertreten, dass es für eine Zurechnung des Erfolgseintritts genügt, wenn das konkrete Handeln des Täters das Risiko der Tatbestandsverwirklichung erhöht hat, und somit bei Beachtung der Sorgfaltsregeln die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts geringer gewesen wäre, also zumindest eine Chance zur Rettung bestanden hätte. Überzeugen kann dies nicht, denn an die Stelle eines zuverlässigen Wahrscheinlichkeitsurteils darüber, ob der Erfolg bei sorgfaltsmäßigem Verhalten ausgeblieben wäre, tritt die als ausreichend erachtete bloße Möglichkeit, dass die Gefahr des Erfolgseintritts zumindest vermindert worden wäre. Die Auffassung der Vertreter dieser sog. Risikoerhöhungslehre sieht sich deshalb dem Vorwurf ausgesetzt, den Grundsatz „in dubio pro reo“ zu missachten und Erfolgs- in Gefährdungsdelikte umzudeuten (Magnus, JuS 2015, 402 (404 f.)).
Die vorstehenden Erwägungen lassen sich auch im Rahmen der hypothetischen Einwilligung heranziehen. Denkbar wäre folgende Argumentation: Hätte der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt, so wäre der tatbestandliche Erfolg also auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten. Der erforderliche Pflichtwidrigkeitszusammenhang besteht dann nicht – so auch die Argumentation des BGH (BGH, Beschluss vom 15.10.2003 – 1 StR 300/03, NStZ-RR 2004, 16 (17)). Ob dieser Gedanke des rechtmäßigen Alternativverhaltens auch auf Vorsatzdelikte übertragbar ist, ist zwar umstritten, der BGH hat jedoch in verschiedenen Konstellationen von Aufklärungsmängeln eine hypothetische Einwilligung anerkannt und die Überlegungen zum rechtmäßigen Alternativverhalten angewandt: Zum einen in Fällen fahrlässiger Körperverletzung, wenn aufgrund eines Aufklärungsmangels die Einwilligung des Patienten unwirksam ist, der Vorsatz des Behandelnden jedoch durch einen Erlaubnistatbestandsirrtum ausgeschlossen ist, da er sich Umstände vorstellte, bei deren Vorliegen die Einwilligung wirksam gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 29.06.1995 – 4 StR 760/94, NStZ 1996, 34). Zum anderen nimmt der BGH eine Straflosigkeit im Wege der hypothetischen Einwilligung aber auch bei Vorsatztaten an, in Fällen, in denen die Einwilligung nicht aufgrund eines bloß ungewollten Aufklärungsmangels unwirksam ist, sondern der Behandelnde den Patienten im Rahmen der Aufklärung bewusst über den Behandlungszweck täuscht (vgl. BGH, Beschluss vom 15.10.2003 – 1 StR 300/03, NStZ-RR 2004, 16; Knauer/Brose, in: Spickhoff Kommentar zum Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 223 Rn. 89). Während die erste Konstellation sich noch mit der ratio, den Arzt vor ausufernden Aufklärungspflichten zu schützen, begründen lässt, trägt dieses Argument keineswegs in Fällen der zweiten Konstellation, in denen der Behandelnde in nahezu missbräuchlicher Weise die Patientenautonomie missachtet. Gleichwohl gelangt der BGH in beiden Fällen zur Straflosigkeit.
IV. Kritische Bewertung und Fazit
Letztlich ist die hypothetische Einwilligung im Strafrecht ein nach wie vor ein umstrittenes Instrument. Um Strafbarkeitsrisiken im medizinischen Bereich zu begrenzen, wurde sie einst als vermeintlich notwendige Reaktion auf ausufernde Aufklärungspflichten geschaffen. Begründet mit der Einheit der Rechtsordnung: Was zivilrechtlich keine Haftung begründet, könne nicht strafbar sein, denn eine die zivilrechtliche Haftung überschreitende Strafbarkeit würde mit dem ultima-ratio-Prinzip des Strafrechts brechen (Knauer/Brose, in: Spickhoff Kommentar zum Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 223 Rn. 88; Wiesner, Die hypothetische Einwilligung im Medizinstrafrecht, 2010, S. 137).
Zurecht stößt die Konstruktion des BGH nicht auf breite Zustimmung. Die Straflosigkeit ist viel weitreichender als die zivilrechtliche Haftungsprivilegierung. Veranschaulicht wird dies durch folgende Ausführungen des BGH zur zivilrechtlichen (1) und strafrechtlichen (2) Behandlung der hypothetischen Einwilligung:
(1) „An einen dahingehenden Nachweis [dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte], der dem Behandelnden obliegt, sind strenge Anforderungen zu stellen, damit nicht auf diesem Weg der Aufklärungsanspruch des Patienten unterlaufen wird.“
BGH, Urteil vom 21.05.2019 – VI ZR 119/18, NJW 2019, 3072 (3075)
Im Unterschied zu dieser Beweislastregelung und entsprechenden Anforderungen gilt im Strafrecht der in dubio pro reo Grundsatz:
(2) „Aufklärungsmängel können […] eine Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung nur begründen, wenn der Patient bei einer den Anforderungen genügenden Aufklärung in den Eingriff nicht eingewilligt hätte. Dies ist dem Arzt – anders als im Zivilrecht – nachzuweisen. Verbleiben Zweifel, so ist davon auszugehen, daß die Einwilligung auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung erteilt worden wäre.“
BGH, Urteil vom 29.06.1995 – 4 StR 760/94, NStZ 1996, 34 (35)
Das Argument der Einheit der Rechtsordnung trägt hier also nicht, vielmehr führt die „Gleichbehandlung“ im Strafrecht und Zivilrecht zu verschiedenen Ergebnissen, da die Patientenautonomie gerade nicht in gleicher Weise geschützt wird.
Darüber hinaus hebelt die hypothetische Einwilligung nicht nur das Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus, sondern umgeht auch die Subsidiarität der mutmaßlichen Aufklärung, der die Wertung innewohnt, dass eine Rechtfertigung ausscheidet, wenn eine Erklärung des Patienten hätte eingeholt werden können, um dessen Autonomie zu wahren (Sowada, NStZ 2012, 1 (7)). Nicht zuletzt werden ärztliche Aufklärungspflichten insofern ad absurdum geführt, dass Verstöße nur noch in seltenen Fällen eine Strafbarkeit begründen, sodass die ratio der Aufklärung – dem Patienten eine angemessene Entscheidungsgrundlage zu gewähren (sog. “informed consent”), um ihn zu schützen – entwertet wird. Ferner stellt sich die Frage, ob sich die Überlegungen zum rechtmäßigen Alternativverhalten überhaupt auf psychologische Alternativverläufe übertragen lassen, denn dem steht entgegen, dass menschliche Entscheidungsprozesse dem Beweis nicht in gleicher Weise zugänglich sind. Es lässt sich also kaum verlässlich ermitteln, wie sich eine Person in einer bestimmten Situation entschieden hätte (Sowada, NStZ 2012, 1 (6); Puppe, GA 2003, 764 (768 ff.)).
Schließlich erscheint auch die Argumentationslinie des BGH nicht vollends nachvollziehbar:
Im Rahmen der Prüfung des rechtmäßigen Alternativverhaltens knüpft der BGH an die mangelhafte Aufklärung an und fragt danach, ob der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung seine Einwilligung erteilt hätte. Tatsächlich müsste jedoch Ausgangspunkt dieser Prüfung die konkrete Verletzungshandlung sein, sprich der ohne wirksame Einwilligung vorgenommene und damit tatbestandsmäßige medizinische Eingriff. Würde man dieses pflichtwidrige Handeln hinwegdenken, also an die Stelle der Behandlung, ein sorgfaltsmäßiges Verhalten, die Nichtbehandlung – infolge mangelnder wirksamer Einwilligung – setzen, so käme man zu dem Ergebnis, dass bei pflichtmäßigem Alternativverhalten der tatbestandliche Erfolg ausgeblieben wäre, mithin der erforderliche Pflichtwidrigkeitszusammenhang besteht. Der BGH gelangt gleichwohl zu einem anderen Ergebnis, indem er an den vorgelagerten Aufklärungsverstoß anknüpft, und damit im Grunde diesen zum Tatbestandsverhalten erklärt, obgleich die zum Erfolg führende und damit prüfungsrelevante Handlung die medizinische Behandlung ohne Einwilligung und nicht die fehlerhafte Aufklärung ist (Swoboda, ZIS 1/2013, 18 (22)). Dennoch ist die hypothetische Einwilligung in der Rechtsprechung fest verankert, woran sich wohl in naher Zukunft nichts ändern wird. Der BGH hat – in auf den ersten Blick nachvollziehbarer Absicht – eine Straflosigkeitskonstruktion geschaffen, die jedoch bei näherem Hinsehen nicht nur dogmatische Fragen aufwirft, sondern auch mit Blick auf den sonst als besonders schutzbedürftig erachteten Patientenwillen schlichtweg inkonsistent ist. Relativiert werden diese Befunde letztlich zumindest dadurch, dass die hypothetische Einwilligung nur bei de lege artis, also kunstgerecht durchgeführten Eingriffen Anwendung findet (Eschelbach, in: Beck’scher Online-Kommentar zum StGB, 54. Ed. 1.8.2022, § 228 Rn. 31; BGH, Urteil vom 05.07.2007 – 4 StR 549/06, NStZ-RR 2007, 340 (341)).
V. Behandlung in Klausuren
In einer Klausur sollte insbesondere auf die saubere Abgrenzung zwischen mutmaßlicher und hypothetischer Einwilligung geachtet werden. Zuerst ist eine ausdrückliche Einwilligung zu prüfen. Liegt keine solche vor, ist subsidiär auf die mutmaßliche Einwilligung abzustellen. Hat das Opfer hingegen eine ausdrückliche Erklärung abgegeben (somit ist der Weg über die subsidiäre mutmaßliche Einwilligung gesperrt), die jedoch an Aufklärungsmängeln leidet, so kommt die hypothetische Einwilligung ins Spiel. Zwecks eines strukturierten Klausuraufbaus empfiehlt es sich deshalb diese in der Rechtswidrigkeit zu thematisieren, im Anschluss an die Prüfung der (anderen) Rechtfertigungsgründe. Dabei sollte darauf eingegangen werden aus welchen Gründen die Rechtsfigur umstritten ist und dass ihre Rechtsnatur nicht eindeutig ist. Ob die hypothetische Einwilligung schließlich als eigenständiger Rechtsfertigungsgrund geprüft wird oder in Form eines Zurechnungsausschlusses, bleibt dem Bearbeiter überlassen. Vertreten lässt sich beides (auch andere hier nicht näher thematisierte Auffassungen zur Rechtsnatur), ebenso wie die Anerkennung oder die Ablehnung dieser Rechtsfigur. Der Streit um die Einordnung im Prüfungsaufbau ermöglicht es Bearbeitern ihr Wissen hinsichtlich allgemeiner Zurechnungskriterien sowie dogmatisches Grundverständnis zu zeigen und darüber hinaus ihr juristisches Argumentationspotential bei der Entscheidung für oder gegen die Anerkennung des Instituts unter Beweis zu stellen. Was den Umfang der Ausführungen zu diesen Punkten betrifft, sollte die Schwerpunktsetzung der Klausur und Relevanz der Streitigkeiten für das Ergebnis nicht aus den Augen verloren werden.