Die Behandlung der einverständlichen Fremdgefährdung in der Klausur
Der nachfolgende Beitrag behandelt den Umgang mit dem Problem der sog. einverständlichen Fremdgefährdung, die häufiger in schriftlichen und mündlichen Prüfungen auftaucht und namentlich bei fahrlässig verwirklichten Delikten, insbesondere einer fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB, aber auch fahrlässigen Körperverletzungen nach § 229 StGB, eine Rolle spielen kann. Erstgenannte Norm liegt etwa dem vom BGH entschiedenen Fall eines tödlich ausgehenden Pkw-Rennens (Urteil v. 20.11.2008 – 4 StR 328/08 = BGHSt 53, 55 ff.) zugrunde: Zwei Autofahrer lieferten sich mit ihren getunten Wagen ein Beschleunigungsrennen, wobei beide je einen Beifahrer dabei hatten, welcher u.a. das Geschehen filmte. Während eines parallel vorgenommenen Überholvorgangs im Hinblick auf ein drittes Auto, welches in die gleiche Richtung auf der rechten Spur unterwegs war, geriet einer der getunten Pkw von der Fahrbahn, wobei sowohl Fahrer als auch Beifahrer herausgeschleudert wurden und der Beifahrer starb; dass dieser mit dem tödlichen Überholvorgang seines Partners einverstanden gewesen war, konnte jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Zu prüfen war jetzt die Strafbarkeit des Fahrers des verunfallten Pkw nach § 222 StGB im Hinblick auf den Tod seines Gefährten.
1. Erste Frage: Liegt überhaupt eine Fremdgefährdung vor?
Zu klären ist zunächst auf Tatbestandsebene, ob der Tod des Beifahrers dem Fahrer überhaupt objektiv zurechenbar ist. Dies scheidet dann aus, wenn das spätere Opfer maßgeblich selbst für das Risiko, welches zur Einbuße der eigenen Güter geführt hat, verantwortlich zeichnet, also nicht der Fall einer Fremd- sondern einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung vorliegt. Dies ist dann zu bejahen, wenn das Opfer die Gefährdung im Wesentlichen selbst herbeigeführt hat, so dass der zugehörige tatbestandsmäßige Erfolg nicht einem Dritten als zurechenbare Fremdverletzung angelastet werden kann. Die Rechtsprechung differenziert hierbei danach, ob das Opfer selbst oder aber ein Dritter die Tatherrschaft über dasjenige Geschehen trug, welches unmittelbar zum tatbestandlichen Erfolg geführt hat; eine Methode, die man bereits von der Abgrenzung von Suizid zur Fremdtötung her kennt, nur, dass im Unterschied hierzu, in der vorliegenden Konstellation keine vorsätzliche, sondern lediglich eine fahrlässige Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges in Rede steht. Das Tatherrschaftskriterium des BGH wird in der Lehre allerdings teilweise unter Hinweis darauf kritisiert, dass beim Fahrlässigkeitsdelikt nach h.M. ein extensiver Einheitstäterbegriff gilt, so dass auch Verhaltensweisen, die bei Vorsatztaten als bloße „Teilnahme“ zu werten wären, als täterschaftliche und damit tatbestandsmäßige Verursachung des Deliktserfolgs erfasst werden können – demgemäß käme dem Begriff der „Tatherrschaft“ bei Fahrlässigkeitsdelikten keine eigenständige Bedeutung zu. Allerdings ändert der Einheitstäterbegriff im Fahrlässigkeitsbereich nichts daran, dass auch hier die von einer eigenverantwortlich agierenden Person herbeigeführte Selbstverletzung strafrechtlich irrelevant ist, so dass es widersprüchlich erschiene, die hierauf bezogene Unterstützungshandlung Dritter plötzlich als relevante Fremdverletzung einzuordnen. Demgemäß kann beim Fahrlässigkeitsdelikt die Tatherrschaft zwar nicht als formelles Kriterium für den Ausschluss einer (mangels rechtswidriger Haupttat) nicht realisierbaren Teilnahme, wohl aber als Konkretisierung für ein autonomes, eigenverantwortliches Verhalten des schlussendlichen Opfers herangezogen werden, welches – ebenso wie beim Vorsatzdelikt – zu einem Ausschluss einer Verantwortung Dritter führen muss. Im Hinblick auf den Rennfahrer-Fall hat der BGH danach eine Fremd- und keine Selbstgefährdung angenommen, da derjenige, der den letztendlich todbringenden Überholvorgang gesteuert und initiiert hat, nicht der Beifahrer, sonder der den Pkw tatsächlich steuernde Fahrer gewesen ist – selbst wenn das spätere Opfer damit einverstanden oder den Überholvorgang vom Fahrer sogar gefordert hätte, läge allenfalls eine „Anstiftung“ oder „psychische Beihilfe“ zu dem pflichtwidrigen Fahrmanöver des Fahrers vor, was jedoch nicht dazu führen würde, dass dem schlussendlich getöteten Partner eine (mindestens gleichrangige) Herrschaft über das Geschehen zuerkannt werden könne.
2. Zweite Frage: Ist die Fremdgefährdung einverständlich erfolgt?
a) Hier ist zunächst der Prüfungsort für diese Fragestellung umstritten: Während Roxin die einverständliche Fremdgefährdung, ebenso wie die Figur der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung, dann als Frage der objektiven Zurechnung begreift, wenn diese „unter allen relevanten Aspekten“ einer Selbstgefährdung gleichstehe (AT I, § 11/123), verortet die h.M. selbige stets beim Prüfungspunkt der Rechtfertigung. Letzteres erscheint in der Tat vorzugswürdig: Denn wenn Eigen- und Fremdgefährdung nach dem Maß der Tatherrschaft des Opfers getrennt werden können, können beide gerade nicht als unter den „relevanten Aspekten“ gleich bewertet werden. Demgegenüber hatte die Vorinstanz im BGH-Fall allerdings argumentiert, dass die Beifahrer bei vorangegangenen Rennen auch selbst am Steuer saßen, so dass es mehr oder weniger vom Zufall abhängig war, wer während der konkreten Fahrt das Gefährt steuerte. Warum dies jedoch für die Frage der Verantwortung für ein konkretes Fehlverhalten relevant sein soll, erscheint nicht ersichtlich: So würde man schließlich auch bei einem Lkw-Fahrer, der aufgrund riskanten Fahrverhaltens einen Unfall mit tödlichem Ausgang verursacht, nicht zusätzlich seinen Kollegen mit dem Argument in Haftung nehmen, dass dieser die Strecke ebenfalls täglich in derselben pflichtwidrigen Weise befährt, so dass es bei ihm ebenso zu dem tödlichen Geschehen hätte kommen können. Für eine Prüfung der etwaigen Zustimmung in das pflichtwidrige Verhalten im Rahmen der Rechtswidrigkeit spricht zudem, dass die einverständliche Fremdgefährdung sehr dem Fall einer regulären Einwilligung ähnelt, die aber nach h.M. stets als Rechtfertigungsgrund fungiert: Wie diese bezieht sich die einverständliche Fremdgefährdung ebenso auf ein durch einen Dritten verwirklichtes Tun, nur dass sie nicht an den eingetretenen Erfolg in Gestalt der Tötung bzw. Verletzung anknüpft (den ja weder Täter noch Opfer herbeiführen wollten), sondern sich allein auf die diesen erst auslösende gefährdende Handlung bezieht.
b) Da sich die Einwilligung des späteren Opfers somit nicht – wie regulär – (auch) auf den eingetretenen Erfolg, sondern nur die Tathandlung, im BGH-Fall also den Überholvorgang des Fahrers bezieht, könnte allerdings fraglich sein, ob ihr überhaupt eine rechtfertigende Wirkung zukommen kann. Dies nimmt die wohl überwiegende Meinung indes grundsätzlich an: Denn auch wenn die Einwilligung den später eingetretenen Erfolg und damit das Erfolgsunrecht der Tat nicht erfasst, so wird durch diese doch zumindest die Tathandlung, welcher das Opfer gerade zugestimmt hat, und damit das Handlungsunrecht des Täters neutralisiert. Damit bleibt aber als unrechtsrelevanter Faktor nur das Erfolgsunrecht in Gestalt der Rechtsgutsbeeinträchtigung übrig, welches für sich betrachtet jedoch nicht in der Lage ist, den Tatbestand der fahrlässigen Tötung (bzw. Körperverletzung) allein zu konstituieren. Demgemäß führt die insofern anzunehmende „Teilrechtfertigung“ dazu, dass eine Strafbarkeit des Täters wegen vollendetem Fahrlässigkeitsdelikts insgesamt ausscheidet – ähnlich wie dies auch für den Fall anerkannt ist, bei dem der Täter im Hinblick auf einen Rechtfertigungsgrund unwissentlich handelt (Bsp.: Der Delinquent verkennt, dass sein Opfer ihn gerade angreifen wollte und er daher aus Notwehr gerechtfertigt gewesen wäre): Hier liegt gewissermaßen der umgekehrte Fall vor, dass nämlich das Erfolgsunrecht entfällt und nur das Handlungsunrecht verbleibt, was aber nach h.M. nicht zu einer Bestrafung wegen vollendeten Delikts, sondern (nur) wegen Versuchs führt – ein Weg, der für das Fahrlässigkeitsdelikt freilich von vornherein versperrt ist und im Hinblick auf das hier allein in Rede stehende Erfolgsunrecht auch nicht zielführend wäre.
3. Dritte Frage: Eingreifen der Einwilligungssperren nach §§ 216, 228 StGB?
Abschließend stellt sich noch die Frage, ob einer (Teil-)Einwilligung des Beifahrers in das tatbestandliche Handlungsunrecht nicht die Sperrwirkung der §§ 216, 228 StGB im Wege steht: Ersterer Tatbestand bezieht sich auf eine Strafbarkeit bei der Einwilligung in eine Fremdtötung, womit das Gesetz zum Ausdruck bringt, dass hier eine Rechtfertigung im Hinblick auf das „Ob“ der Strafe gerade nicht bestehen soll; letztere Regelung behandelt einen Ausschluss der Einwilligung in das Unrecht einer Körperverletzung, soweit die begangene Tat als sittenwidrig erscheint.
a) Fraglich ist dabei zunächst, ob eine oder beide Regelungen auf die Fahrlässigkeitsdelikte der §§ 222, 229 StGB überhaupt anwendbar sind. Dies scheint deswegen nicht von vornherein ausgemacht, da beide Vorschriften die Möglichkeit einer rechtfertigenden Einwilligung beschränken, so dass bei ihnen – als strafbegründende Umstände – insbesondere die Wortlautgrenze des Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten ist.
aa) Eine Anwendbarkeit auf Fahrlässigkeitsdelikte erscheint dabei gerade im Hinblick auf § 216 StGB, der Tötung auf Verlangen, fragwürdig, da diesem Tatbestand zwingend ein vorsätzliches Tatgeschehen zugrunde liegt, weil ansonsten ein dort gefordertes „Bestimmen“ des Täters zur Tötung nicht denkbar ist; diese Situation ist auf eine fahrlässige Tat aber nicht übertragbar. Desgleichen ist zu beachten, dass die Vorschrift mit ihrem absoluten Einwilligungsverbot bei Tötungsdelikten im Hinblick auf die grundgesetzlich geschützte Privatautonomie des Opfers ohnehin eine höchst problematische Ausnahmeregelung darstellt, so dass auch dieser Punkt gegen eine Ausdehnung derselben auf § 222 StGB spricht („singularia non sunt extendenda“). Schließlich lässt sich auch die systematische Stellung der Norm gegen eine Anwendbarkeit auf die fahrlässige Tötung ins Feld führen, da letzterer Tatbestand hinter § 216 StGB geregelt ist, so dass selbige sich – unter Beachtung der gesetzlichen Abfolge – (nur) auf die vorsätzlichen Delikte der §§ 211, 212 StGB beziehen kann.
bb) Ähnliche Bedenken bestehen auch im Hinblick auf die Einwilligungssperre bei einer Körperverletzung durch § 228 StGB: Diese Vorschrift kann allerdings zunächst durchaus (auch) bei einer fahrlässigen Tötung herangezogen werden, da hier jedenfalls als Zwischenschritt eine Körperverletzung zwingend enthalten ist, die sodann zum Tod führt; i.Ü. kann auch der Tod selbst als die schwerste denkbare Körperverletzung, nämlich eine solche, die zur irreversiblen Aufhebung der Funktionsfähigkeit des Gesamtorganismus führt, begriffen werden. Dennoch sprechen sowohl die Systematik (die fahrlässige Körperverletzung steht wiederum hinter der Einwilligungssperre nach § 228 StGB) als auch der Wortlaut gegen eine Anwendbarkeit des § 228 StGB auf fahrlässig begangene Delikte: Letzteres ergibt sich insbesondere aus der Gegenüberstellung von § 228 StGB und § 229 StGB, wobei die erstgenannte Norm davon spricht, dass der Täter eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person „vornimmt“, was auf das Erfordernis eines finalen Verhaltens schließen lässt – sich etwas vornehmen heißt schließlich, dass ein bestimmter Sachverhalt bereits vorab durchdacht wurde, bevor er ins Werk gesetzt wird. Demgegenüber sind sowohl § 229 als auch § 222 StGB neutraler formuliert, da dort jeweils nur gefordert ist, dass die jeweilige Rechtsgutsverletzung durch den Täter „verursacht“ wird.
b) Dagegen nimmt allerdings der BGH an, dass im Rahmen einer fahrlässigen Tötung die §§ 216, 228 StGB jedenfalls ihrem „Rechtsgedanken“ nach Anwendung finden können. So heißt es in der Rennfall-Entscheidung, hierfür spreche sowohl der Normzweck des § 228 StGB als auch die aus der Vorschrift des § 216 StGB abzuleitende gesetzgeberische Wertung. Sie begrenzten die rechtfertigende Kraft der Einwilligung in eine Tötung oder Körperverletzung, da das Gesetz ein soziales bzw. Allgemeininteresse am Erhalt dieser Rechtsgüter auch gegen den aktuellen Willen des Betroffenen verfolge. Eine rechtfertigende Wirkung der Einwilligung in riskantes Verkehrsverhalten scheide danach bei rein individualschützenden Delikten dort aus, wo die Grenze zur Sittenwidrigkeit überschritten sei, was durch den BGH mit dem Vorliegen einer konkreten Todesgefahr, unabhängig von einer tatsächlich eingetretenen Rechtsgutsverletzung, gleichgesetzt wird. Danach wäre im Fall des Beschleunigungsrennens jedenfalls zu dem Zeitpunkt, zu dem ein gleichzeitiges Überholen eines unbeteiligten dritten Fahrzeugs mit nicht mehr kontrollierbaren höchsten Risiken für sämtliche betroffene Verkehrsteilnehmer verbunden war, eine Einwilligungssperre nach § 228 StGB anzunehmen. Unabhängig von der Nachvollziehbarkeit dieses Ergebnisses im konkreten Fall erscheint eine generelle Gleichsetzung des Begriffs der „Sittenwidrigkeit“ mit einer erhöhten Todesgefahr jedoch zweifelhaft, da durchaus Fälle vorstellbar sind, in denen eine Person hochgradig gefährdet wird, ohne dass gleichzeitig eine Strafbarkeit des Handelnden angebracht wäre: Gedacht sei etwa das Beispiel, dass ein Täter seinen kollabierten Freund mit Hochgeschwindigkeit zum Krankenhaus fährt, damit dieser eine lebensrettende Injektion erhalten kann, und dabei einen für seinen Begleiter tödlichen Unfall verursacht – hier eine Sittenwidrigkeit der zuvor erteilten Einwilligung nur aufgrund der Todesgefahr durch das riskante Fahren anzunehmen, erscheint der Rettungsintention des Fahrers nicht angemessen. Der Fall zeigt, dass eine Bejahung des Merkmals der Sittenwidrigkeit nicht nur isoliert nach der Gefährdung des Opfers, sondern immer auch im Hinblick auf die Zwecke, die der Täter dabei verfolgt, bestimmt werden muss. Demgemäß müssen die tragenden Motive des Delinquenten jedenfalls insoweit, wie sie nachvollziehbar und billigenswert erscheinen, eine durch die Gefährdung zunächst indizierte Sittenwidrigkeit ausschließen können. Auch nach dieser Maßgabe wäre freilich im vorliegenden Fall des BGH, sofern man die Vorschrift des § 228 StGB nach dem soeben Gesagten überhaupt für anwendbar hält, von einer Sittenwidrigkeit auszugehen: Denn der Zweck des Beschleunigungsrennens und des hierbei durchgeführten Überholvorgangs im Besonderen folgte keiner von der Rechtsordnung unterstützten Intention, vielmehr wurde beides offenbar nur aus der simplen Lust am Geschwindigkeitsrausch und Wettkampf vorgenommen.
Sehr geehrter Herr Muders,
gerne hätte ich Ihnen privat geschrieben, doch leider konnte ich hierfür keine Adresse finden.
Meine Anmerkung hat nichts mit dem Artikel an sich zu tun, der – wie meist – sehr interessant ist, sondern nur mit der Titelführung Ihres Doktorvaters.
Soweit ich mich entsinne, bedeutet „Dres.“ „Doctores“ und bezieht sich nicht auf mehrere (in diesem Fall Ehren-)Doktortitel einer Person, sondern auf mehrere Personen (so zB Herr und Frau Dres. Müller). Wäre hier nicht Prof. Dr. h.c. mult. richtig?
Freundliche Grüße,
stud.jur. Fritz Herrmann
Hallo Herr Hermann,
ich orientiere mich bei der Schreibweise einfach am offiziellen Internetauftritt von Fachbereich und LS.
Beste Grüße
Christian Muders
Sehr geehrter Herr Murders,
ich frage mich bei ihren Ausführungen, warum kein Vorsatz in Erwägung gezogen und dieser nicht zumindest angeprüft wird. Wäre die vorgenommene Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdgefährdung nicht schon im Rahmen des §212 möglich?
Mit freundlichen Grüßen