Der Hauptausschuss – Übungsfall
Wie seit einigen Tagen in den aktuellen Nachrichten angekündigt, hat der Deutsche Bundestag heute die Einrichtung eines sog. „Hauptausschusses“ oder „Superausschusses“ unter dem Vorsitz von Norbert Lammert beschlossen. Grund hierfür ist der Umstand, dass sich die Koalitionsgespräche zwischen CDU und SPD lange hingezogen haben (so lange wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik, dazu auch unser Artikel zum Thema „geschäftsführende“ Regierung) und daher einige wichtige Themen auf der Strecke geblieben sind. So muss wohl über einige Vorlagen noch vor der Jahreswende abgestimmt werden. Hierfür will die designierte Große Koalition einen neuen Ausschuss ins Leben rufen, um die parlamentarische Arbeit am Leben zu erhalten. Unmut regt sich bei der Opposition und auch bei Verfassungsrechtlern.
Grund genug, sich dem Thema – besondere für die Mündliche Prüfung – einmal auf Prüfungsniveau zu nähern. Die fiktive Frage lautet, ob ein einzelner Abgeordneter (A), der keinen Ausschussplatz ergattern konnte, gegen die Einsetzung des Hauptausschusses vor dem BVerfG vorgehen kann.
Prüfungsmäßig wäre also die Frage zu beantworten, ob ein Antrag des A Erfolg hätte. In Betracht kommt vorliegend ein Antrag im Organstreitverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG.
Dazu müsste der Antrag zulässig und begründet sein.
A. Zulässigkeit
Der Antrag müsste zulässig sein.
- Das BVerfG ist für das Organstreitverfahren zuständig gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG.
- Weiterhin müsste A ein tauglicher Antragssteller sein. Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG sind dies die obersten Bundesorgane sowie andere Beteiligte, soweit diese von der Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet sind. A ist als einzelner Abgeordneter kein oberstes Bundesorgan. Aber er könnte jedenfalls durch die Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet sein. In Frage kommen hier insbesondere seine Abgeordnetenrechte aus Art. 38 GG, die ihn zur Teilnahme an der parlamentarischen Diskussion und Willensbildung berechtigen. A ist also ein tauglicher Antragssteller.
- Weiterhin müsste ein tauglicher Antragsgegner vorliegen. In Frage kommt hier der Bundestag, der durch seinen Mehrheitsbeschluss die Einrichtung des Hauptausschusses beschlossen hat. Der Bundestag ist ein oberster Bundesorgan und damit ein tauglicher Antragsgegner.
- Weiterhin müsste ein tauglicher Antragsgegenstand gem. § 64 Abs. 1 BVerfGG vorliegen. Gegenstand des Antrages muss hiernach eine Maßnahme oder ein Unterlassen des Antragsgegners sein. In Betracht kommt hier – wie verdeutlicht – der Beschluss des Bundestages zur Einrichtung des Hauptausschusses, der ein rechtsverbindliches Handeln, also eine Maßnahme darstellt. Ein tauglicher Antragsgegenstand liegt vor. Man könnte wohl auch darauf abstellen, dass der Bundestag es unterlassen hat, weitere Ausschüsse einzurichten.
- A müsste weiterhin antragsbefugt sein. Hierzu müsste er geltend machen, in seinen verfassungsmäßigen Rechten verletzt zu sein, vgl. § 64 Abs. 1 GG, wobei die Möglichkeit hier ausreicht. A kann geltend machen, in seinen Abgeordnetenrechten verletzt zu sein. Dies erscheint hier jedenfalls möglich. A dürfte sich hier nicht auf Art. 45, 45a GG direkt berufen können, da diese wohl nicht ihn als einzelnen Abgeordneten schützen. Es dürfte kein Recht eines Abgebordneten auf Einrichtung eines Ausschusses geben.
- Form und Frist sind eingehalten, wobei zu beachten ist, dass gem. § 64 Abs. 3 BVerfGG eine 6-Monatsfrist gilt.
Der Antrag des A im Organstreitverfahren ist also zulässig.
B. Begründetheit
Der Antrag müsste weiterhin begründet sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Maßnahme des Antragsgegners – hier der Beschluss zur Einrichtung des Hauptausschusses – den A in seinen Rechten verletzt.
1. Befugnis zur Einrichtung von Ausschüssen
Der Bundestag müsste zuerst einmal befugt sein, Ausschüsse einzurichten. Das Grundgesetz sieht die Einrichtung von Ausschüssen ausdrücklich vor, vgl. nur Art. 43 Abs. 1, 2 GG. Die Ausschüsse sind auch im praktischen Parlamentsalltag nicht wegzudenken, da hier unter Mitwirkung sachkundiger Politiker insbesondere Gesetzesvorlagen erarbeitet werden, die dann dem Bundestag zur Abstimmung zugeleitet werden. Dies geht auch aus § 62 GOTB hervor, der die Ausschüsse als vorbereitenden Beschlussorgane bezeichnet.
Gem. Art. 40 GG kann der Bundestag sich eine Geschäftsordnung geben, derzeit die sog. GOBT (Geschäftsordnung des Bundestages). Diese Geschäftsordnungsautonomie berechtigt den Bundestag in erster Linie Vorgaben hinsichtlich Geschäftsgang, Disziplin, Arbeitsweise, Abstimmungsmodalitäten. Es werden also dort die praktischen Arbeitsabläufe des parlamentarischen Alltags geregelt, dies natürlich immer im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben.
Nach § 54 Abs. 1 GOBT darf der BT Ausschüsse einsetzen. Gemäß § 54 Abs. 2 GOBT kommt es allerdings auf die Vorgaben des Grundgesetzes an. Dieses nennt vor allem in §§ 54, 54a GG einzelne Ausschüsse, die der Bundestag einrichtet. Ob es sich hierbei um sog. „Pflichtausschüsse“ handelt, ist in der juristischen Literatur umstritten. Sollte dies der Fall sein, dürfte sich das aber nicht unmittelbar auf die Einsetzung des Hauptausschusses auswirken, vielmehr müsste der Bundestag bei Erfolg des Antrags die erforderlichen Ausschüsse – zusätzlich – einrichten.
Nach dem Gesagten hat der Bundestag die Befugnis, den Hauptausschuss einzurichten.
2. Eingriff in verfassungsmäßige Rechte des A aus Art. 38 GG
Durch die Einrichtung könnte in die durch die Verfassung garantierten Abgeordnetenrechte des A eingegriffen worden sein. Art. 38 GG garantiert auch dem einzelnen Abgeordneten eine Teilhabe an der parlamentarischen Diskussion und der Willensbildung. So auch das BVerfG (BVerfG, Urteil vom 13-06-1989, Az. 2 BvE 1/88):
Der Abgeordnetenstatus des Art. 38 I 2 GG ist ein solcher formaler Gleichheit. Darin liegt der verfassungsrechtliche Schutz vor Eingriffen in das Recht auf gleiche Mitwirkung aller an der Erfüllung der Aufgaben des Bundestages.
Bereits festgehalten wurde, dass die maßgebliche Arbeit tatsächlichen in den Ausschüssen stattfindet. Das sieht auch das BVerfG so (BVerfG, Urteil vom 13-06-1989, Az. 2 BvE 1/88):
b) Eine prinzipielle Mitwirkungsmöglichkeit hat für den einzelnen Abgeordneten angesichts des Umstandes, daß ein Großteil der eigentlichen Sacharbeit des Bundestages von den Ausschüssen bewältigt wird, eine der Mitwirkung im Plenum vergleichbare Bedeutung. Von daher darf ein Abgeordneter nicht ohne gewichtige, an der Funktionstüchtigkeit des Parlaments orientierte Gründe von jeder Mitarbeit in den Ausschüssen ausgeschlossen werden.
c) Wenn – wie derzeit – der Zahl der Abgeordneten eine entsprechend große Zahl von Ausschußsitzen gegenübersteht, hat jeder einzelne Abgeordnete Anspruch darauf, in einem Ausschuß mit Rede- und Antragsrecht mitzuwirken; hingegen ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, dem fraktionslosen Abgeordneten im Ausschuß ein – notwendigerweise überproportional wirkendes – Stimmrecht zu geben.
Im vorliegenden Fall besteht nur ein Ausschuss mit gerade einmal 40 Mitgliedern. Vor diesem Hintergrund wurden die Mitwirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten derart offensichtlich beschnitten, dass von vorneherein klar war, dass nur ein Bruchteil aller Abgeordneten (< 10%) einen Sitz im Ausschuss erhalten wird. Andererseits werden die Ausschüsse anteilsmäßig nach den Fraktionen besetzt, vgl. § 12 GOTB. Jeder Abgeordnete hat also die potenzielle Möglichkeit, Mitglied des Ausschusses zu werden. Eine Beeinträchtigung des Art. 38 GG könnte vor diesem Hintergrund abzulehnen sein. Hier sind sicher beide Ansichten vertretbar, es kommt nur auf eine schlüssige Argumentation an. Ein Recht des Abgeordneten auf Einrichtung von Ausschüssen dürfte hingegen nicht bestehen.
3. Rechtfertigung
Sollte man zum Ergebnis kommen, dass Art. 38 GG betroffen ist, könnte dieser Eingriff aber gerechtfertigt sein. Die neue designierte Bundesregierung will im vorliegenden Fall noch abwarten, bis die Ressorts gebildet sind und dann die Ausschüsse dementsprechend installieren. Um das Parlament funktionsfähig zu halten, wurde die Einrichtung des Hauptausschlusses beschlossen. Die Funktionsfähigkeit des Bundestages ist ein gewichtiges Argument, das auch starke Eingriffe wie die 5% Hürde rechtfertigen kann, gleichwohl muss beachtet werden, dass der Einrichtung der Ausschüsse bloß die parlamentarische Übung im Wege steht, denn die Ausschüsse könnten auch unmittelbar nach Zusammenkommen des neu gewählten Bundestages eingerichtet werden. Allein, dass die Regierungsbildung hier noch nicht abgeschlossen ist, dürfte für eine Rechtfertigung nicht ausreichen.
C. Ergebnis
Je nach dem, wie man sich entscheidet, ist der Antrag jedenfalls zulässig und begründet/nicht begründet.
Der Organstreit hat keine Gestaltungswirkung. Es ergeht ein Feststellungsurteil. Der Bundestag müsste damit die Einsetzung des Hauptausschusses rückgängig machen oder womöglich durch Einrichtung weiterer Ausschüsse einer Verletzung von Art. 38 GG entgegenwirken.
Für die aufmerksamen Bearbeiter: Zu denken wäre noch an § 32 BVerfGG!
„Dieses nennt vor allem in §§ 54, 54a GG einzelne Ausschüsse, die der Bundestag einrichtet.“ Gemeint sind Art. 53 GG sowie Art. 53 a GG. Art. 54 GG bezieht sich auf die Wahl durch die Bundesversammlung und Art. 54 a GG ist im Gesetzestext nicht vorhanden.
Es sind die art. 45 und 45a GG gemeint