Das erste Semester – Teil 3: Auslegung als Handwerkszeug des Juristen
Rechtzeitig zum Semesterstart wollen wir von Juraexamen.info uns auch an Frischlinge, also die Erstsemester, richten und ein paar kleine Tipps geben, die den Start ins Studium hoffentlich erleichtern. Die Reihe wird zeitnah fortgesetzt. Ziel des folgenden Artikels ist die Vermittlung der Grundlagen der Auslegung.
A. Wozu Auslegung?
Juristen beschäftigen sich mit Gesetzen, grundsätzlich also mit Gesetzestexten, also geschriebenen Rechtsnormen. Dass darüber hinaus vieles ungeschrieben ist und entwickelt werden muss, ändert nichts an der Tatsache, dass im Ausgangspunkt rechtlicher Überlegungen immer der geschriebene Gesetzestext steht. Immens wichtig ist daher schon im ersten Semester die Arbeit am Gesetzestext. Das bedeutet konkret:
– Das Gesetz immer zur Hand haben.
– Das Gesetz lesen lernen.
– Das Gesetz richtig und genau lesen.
Dem Gesetz steht als maßgebliche Ausdrucksform die (deutsche) Sprache zur Verfügung. Gleichwohl muss das Gesetz eine Vielzahl von Lebenssachverhalten erfassen können, um praktikabel zu sein.
• Anschauliches Beispiel: Wie viele Möglichkeiten einer „Körperverletzung“ im Sinne von § 223 StGB sind denkbar?
Man kann nicht für jeden denkbaren Lebenssachverhalt eine eigene Vorschrift verfassen. Das würde zu einer Regelungswut führen, die ohnehin schon vielfach kritisiert wird. Die gesetzlichen Normen können daher nur eingeschränkt aus dem Baukasten der Sprache auswählen und müssen dabei gleichzeitig eine Vielzahl von Lebenssachverhalten erfassen. Hieraus erwachsen auch Probleme für den Studenten, die sich grundsätzlich wie folgt zeigen können:
- Atypischer Sachverhalt: Die Norm und deren Definitionen sind bekannt. Man fragt sich allerdings, ob der Lebenssachverhalt unter den Tatbestand passen kann (Beispiel: Gürtel als Waffe oder gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 StGB).
- Fremde Norm: Man liest eine unbekannte Rechtsnorm, deren Definitionen man nicht kennt und fragt sich nach der Bedeutung der einzelnen Tatbestandsmerkmale (Beispiel: Fischwilderei im StGB, Prüfungsrecht des Bundespräsidenten).
Diese Situationen stellen sich immer wieder, vor allem mit fortschreitendem Studium und vor allem in den Examensklausuren. Hat man aber sein Handwerkszeug gelernt, kann man sich selbst aus diesen brenzligen Klausursituationen befreien. Da man niemals alle Definitionen und Auslegungsvarianten auswendig lernen kann (und auch nicht soll!), bietet die Auslegung ein bekanntes und vor allem anerkanntes Schema, um sich selbst, auch in der Hektik der Klausur, eigene, gut vertretbare und damit richtige Lösungswege zu erarbeiten. Gleichwohl muss nicht immer ausgelegt werden. Ist die entsprechende Norm bekannt und ist der Lebenssachverhalt nicht atypisch, muss nicht unbedingt ausgelegt werden.
• Beispiel: Automatische Maschinenpistole als „Waffe“ im Sinne von § 224 StBG.
B. Auslegungsmethoden
Wie wird nun eine „Auslegung“ in der Praxis, also auch in der Klausur praktiziert? Hierzu haben sich Methoden herausgebildet, die im sog. „Savigny´schen Auslegungskanon“ zusammengefasst sind. Hält man sich an diese Reihenfolge und überprüft man die zu subsumierenden Rechtsnormen kritisch an diesen Methoden, ist das Ergebnis zumeist immer vertretbar!
I. Grammatikalische Auslegung (Wortlautauslegung)
Ausgangspunkt jeglicher Auslegung ist der Wortlaut des Gesetzes, also der geschriebene, abgedruckte und damit lesbare Text.
• Was sagt mir der reine Wortlaut, was stelle ich mir beim Lesen vor? Was ist die allgemeine Wortbedeutung ohne juristische Vorüberlegungen?
• Gibt es Definitionen im gleichen oder in anderen Gesetzen?
• Ist der Begriff ein rechtstechnischer Begriff (Beispiel: Der Begriff des Zugangs im BGB)?
II. Systematische Auslegung:
Gesetze bestehen aus Teilen, Abschnitten, Unterabschnitten, Vorschriften (Normen), Absätzen, Sätzen, Halbsätzen und schließlich einzelnen Wörtern (Tabestandsmerkmale). Gegenstand der systematischen Auslegung ist deren Beziehung zueinander.
• In welchem Teil befindet sich eine Vorschrift?
• Bestehen Beziehungen zu anderen Vorschriften?
• Gibt es Verweise?
III. Historische Auslegung
Auch Gesetzestexte unterliegen, bis auf einige Ausnahmen, einer ständigen Revision, d.h. sie werden neu gefasst, geändert und damit umgeschrieben. Die historische Auslegung befasst sich mit genau dieser Veränderung. Untersucht werden hier die vorherigen Versionen einer Vorschrift, um diese dann mit der aktuellen und zu bearbeitenden Version in Relation zu setzen. Diese Auslegungsmethode wird in der Klausur kaum erwartet, da historische Materialien vorliegen müssen. Wenn diese aber unter dem Sachverhalt abgedruckt sein sollten, ist dies ein klares Zeichen dafür, diese zu nutzen und daraus Argumente zu entwickeln!
IV. Auslegung nach Sinn und Zweck (Telelogische Auslegung)
Dies bisherigen Auslegungsmethoden beschäftigten sich stark mit dem Rechtstext, dessen Wortlaut und Stellung im Gesetz. Die teleologische Auslegung stellt hier die weitergehende Frage nach dem Sinn und Zweck der Rechtsnorm.
• Welchen Sinn und Zweck hat die Norm -> Warum gib es sie und was steckt dahinter?
Aus dieser Analyse kann sich zweierlei ergeben: Der Sinn und Zweck der Norm erfasst den Lebenssachverhalt oder er erfasst ihn nicht. Sollte das Ergebnis der teleologischen Betrachtung mit dem der bereits erfolgten grammatikalischen und systematischen Betrachtung divergieren, ist Vorsicht geboten. Grundsätzlich stellt der Wortlaut die Grenze der Auslegung dar. Es soll sich, anders gesagt, nicht krass gegen den Wortlaut gerichtet werden. Ansonsten ist jedenfalls eine dezidierte Begründung erforderlich. Sind die Ergebnisse der grammatikalischen und systematischen Auslegung allerdings wenig belastbar, kann die teleologische Betrachtungsweise das Ergebnis maßgeblich beeinflussen.
V. Unionsrechtskonforme Auslegung:
In den Zeiten harmonisierter Gesetzgebung durch die EU mit Hilfe von Richtlinien und Verordnungen wird eine unionsrechtskonforme Auslegung immer wichtiger. Grob fordert eine solche Auslegung eine konforme Anwendung des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht.
VI. Wertigkeit/Reihenfolge?
Für das Studium ist es ratsam eine grundsätzliche Reihenfolge einzuhalten:
• Die Auslegung startet beim Wortlaut des Gesetzes und geht dann über zur Systamtik.
• Teleologische und historische Erwägung dürfen grundsäzlich nicht dem Wortlaut entgegenstehen.
Literaturtips:
Bei einer etwaigen Literatursuche ist zu beachten, dass das weite Thema der Auslegung in der Wissenschaft vielfältige und teils hoch wissenschaftliche Beachtung gefunden hat. Für das Studium und vor allem die Anfangssemester ist das meist zu viel. Bekannt sein sollten die genannten Auslegungskanones und die Grundsätze der Auslegung. Das kann man auch in der Klausur noch abrufen. Alles andere ist dann vor allem Übungssache!
Vielleicht noch zwei Ergänzungen:
Erstens gibt es neben der unionsrechtskonformen Auslegung auch noch die verfassungskonforme Auslegung, bei der es darum geht, eine Norm so auszulegen, dass sie mit der Verfassung in Einklang steht.
Zweitens wird der Auslegungskanon Savignys heute zumindest im Zivilrecht um weitere Kriterien ergänzt, vor allem die Rechtsvergleichung und die ökonomische Analyse. Das ist allerdings im Studium zumindest am Anfang nicht gefordert.
Hat mir sehr geholfen, vielen Dank!
Vielen Dank für diesen Eintrag. Hat mich schon ein Stück weitergebracht! 🙂