BVerfG zur Strafbarkeit der Holocaust-Lüge – Kneipengespräch über Kriegsschuld keine Volksverhetzung
In einer Entscheidung vom 9.11.2011 urteilte das BVerfG (Az: 1 BvR 461/08), dass eine Leugnung des Holocaust in einem privaten Kneipengespräch mit dem Wirt nicht nach § 130 StGB strafbar ist.
Sachverhalt
Der Verfassungsbeschwerde lag folgender Sachverhalt zugrunde:
„Am 15. April 2005 besuchte der Beschwerdeführer die Gaststätte „B.“ in der Gemeinde O. Während des Besuchs wurde in der Gaststätte auf dem Nachrichtenkanal ntv eine Dokumentation über den zweiten Weltkrieg gezeigt. Der Beschwerdeführer ereiferte sich laut über den Krieg, dessen Folgen und die Umstände der Verursachung.
Am 17. April 2005 suchte der Beschwerdeführer die Gaststätte erneut auf. Allein der Gastwirt war zu dem Zeitpunkt in der Gaststube anwesend. Der Beschwerdeführer verwickelte ihn in ein Gespräch über die Geschehnisse in Deutschland während des „Dritten Reichs“. Dabei übergab der Beschwerdeführer dem Gastwirt in einer Mappe Informationsmaterial in Form von zwei Redemanuskripten („Trauermarsch anlässlich des 60. Jahrestages der Bombardierung Magdeburgs“ und „Trauermarsch anlässlich des 60. Jahrestages der Zerstörung Würzburgs“), die der Beschwerdeführer in der Vergangenheit öffentlich gehalten hatte, sowie jeweils eine Kopie mehrerer Aufsätze des „Kampfbundes gegen Unterdrückung der Wahrheit in Deutschland“, darunter „Die Geschichtslüge des angeblichen Überfalls auf Polen im Jahre 1939“ und „Über die verantwortlichen Staatsmänner, die den Zweiten Weltkrieg verursachten und die ihn zu verhindern suchten“. Im erstgenannten Aufsatz wird unter anderem im Zusammenhang mit dem Holocaust behauptet, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass es keine Gaskammern für Menschen gegeben habe. Im zweitgenannten Aufsatz wird der Holocaust an den Juden als „Zwecklüge“ bezeichnet.“
Daraufhin wurde er von den Instanzgerichten gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3, Abs. 5 StGB wegen Volksverhetzung verurteilt. Hiergegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde.
Schutzbereich der Meinungsfreiheit
Den Schutzbereich der Meinungsfreiheit sah das BVerfG vorliegend zu Recht für eröffnet an. Meinungen sind durch ein Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen. Dabei findet – entsprechend der Wertung des Zensurverbots des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG – keine Kontrolle statt, ob eine Meinung politisch vertretbar ist oder nicht:
„Sie fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden (vgl. BVerfGE 90, 241 <247>; 124, 300 <320>). Dementsprechend fällt selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG heraus (vgl. BVerfGE 124, 300 <320 f.>).“
Nicht mehr in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen hingegen nach Ansicht des BVerfG „bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen“ und damit auch die sog. Holocaust-Lüge.
„Dieses insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete Massenvernichtungsunrecht ist aber eine geschichtlich erwiesene Tatsache, deren Leugnen folglich als erwiesen unwahr allein für sich betrachtet nicht dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfällt.“
Andererseits jedoch ist diese Einschränkung idR doch nicht einschlägig, denn das BVerfG anerkennt zugleich, dass die Anforderungen an die Wahrheitspflicht nicht überspannt werden dürfen und vor allem auch bei einem Zusammenhang mit anderen wertenden Stellungnahmen der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht zu restriktiv verstanden werden darf. Hier ging es in den verbreiteten Schriften und mündlichen Äußerungen des Beschwerdeführers auch um andere Fragen wie etwa die Kriegsschuld Deutschlands, dasVerhalten der „BRD-Politiker“ im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg etc. Daher sei insgesamt der Schutzbereich des Art. 5 GG doch eröffnet. Dies ist im Ergebnis überzeugend. Man könnte auch – mit Hinweis auf die Wertung des Zensurverbots – ebenso gut vertreten, dass auch erwiesen unwahre Tatsachen generell vom Schutzbereich des Art. 5 GG erfasst sind. Dann gewährleistet die Meinungsfreiheit eben auch ein Recht, sich zu irren. Im Ergebnis wird dies eh nur selten einen Unterschied machen, da – gerade im Falle der Holocaust-Lüge – in weitem Umfang Eingriffe in die Meinungsfreiheit bis hin zur Strafbarkeit dieser Äußerung gerechtfertigt sind.
Rechtfertigung: Verfassungskonformität des § 130 StGB
Nach stRspr ist nämlich § 130 StGB – bei einer restriktiven Auslegung im Lichte des Art. 5 GG – verfassungskonform. Schranken für die Meinungsfreiheit dürfen zwar eigentlich nur allgemeine Gesetze iSv Art. 5 Abs. 2 GG ziehen und das Verbot der Auschwitzlüge richtet sich gerade gegen eine bestimmte Meinung und ist daher nicht meinungsneutral. Das BVerfG hat jedoch eine Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze für Vorschriften anerkannt, die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen (vgl. zuvor bereits BVerfG v. 04.11.2009 – 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300, 328 ff., s. hierzu unser Beitrag).
Aber: Keine verfassungskonforme Anwendung durch die Strafgerichte
Im vorliegenden Fall jedoch war die Verurteilung des Beschwerdeführers verfassungswidrig, denn die Strafgerichte haben § 130 StGB nicht hinreichend restriktiv im Sinne der sog. Wechselwirkungslehre ausgelegt. Vorliegend wurde insbesondere das Merkmal des „Verbreitens“ in § 130 Abs. 2 StGB zu weit interpretiert.
„Bei Auslegung und Anwendung der die Meinungsfreiheit einschränkenden Vorschriften haben die Gerichte jedoch im Einzelfall ihrerseits wiederum dem eingeschränkten Grundrecht Rechnung zu tragen, damit dessen wertsetzende Bedeutung, die in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen führen muss, auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt. Zwischen Grundrechtsschutz und Grundrechtsschranken findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzender Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen. […]
Der Gesetzgeber hat – ungeachtet der Frage, inwieweit § 130 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3, Abs. 5 StGB aus anderen Gründen den verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere etwa im Hinblick auf einen verfassungsrechtlich tragfähigen Rechtsgüterschutz, genügt – dieser wertsetzenden Bedeutung jedenfalls insofern Rechnung getragen, als er in dieser Tatbestandsvariante nicht jede Art der Äußerung unter Strafe gestellt hat, sondern nur das Verbreiten. Hierin sieht er folglich die Grenze zur Rechtsgutsverletzung überschritten. Entscheidendes Kriterium, ob ein Verbreiten vorliegt, ist nach hergebrachtem Verständnis stets, dass eine Schrift einem größeren, nicht mehr kontrollierbaren Personenkreis zugänglich gemacht wird. […]Indem die angegriffenen Entscheidungen entgegen dieser Wertung das Tatbestandsmerkmal „Verbreiten“ überdehnt und letztlich den bloßen Austausch von Schriften zwischen zwei Personen unter den Straftatbestand des § 130 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3, Abs. 5 StGB subsumiert haben, verkennen sie die Bedeutung der Meinungsfreiheit wesentlich. Sie haben damit in mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbarer Weise nicht erst die Art und Weise der Kommunikation, die bereits den Übergang zur Rechtsgutsverletzung in sich trägt, sondern im Ergebnis schon das schlichte Äußern einer konkreten Meinung unter Strafe gestellt. Insbesondere ist auch die vom Landgericht angenommene friedensstörende Wirkung, wie sie für einen Eingriff in die Meinungsfreiheit erforderlich wäre (vgl. BVerfGE 124, 300 <335>), nicht erkennbar. Denn nach den gerichtlichen Feststellungen haben der Beschwerdeführer und der Gastwirt als Empfänger der Schriften, übereinstimmend ausgesagt, dass der Beschwerdeführer dem Gastwirt die fraglichen Aufsätze deshalb ausgehändigt habe, damit dieser sich über die sich angeblich tatsächlich ereigneten historischen Geschehnisse informiere. Überreicht worden ist auch jeweils nur ein Exemplar der gegenständlichen Schriften. Sonstige Personen waren beim Austausch der Schriften – soweit festgestellt – nicht anwesend. […]“
Der ähnliche aber doch leicht andere Fall zu § 130 Abs. 4 StGB (BVerfG v. 04.11.2009 – 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300, 328 ff.) kam auch schon zwei mal im Examen dran! S. hier https://www.juraexamen.info/examensreport-1-staatsexamen-september-2010-examensklausuren-in-nrw/
Wenn ein Deutscher eine erwiesene Tatsache leugnet – so kann das nicht strafbar – allenfalls nur töricht sein.