BVerfG: Der Untreuetatbestand des § 266 Abs. 1 StGB ist verfassungsgemäß
Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Grundsatzentscheidung (Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08, 2 BvR 105/09, 2 BvR 491/09) die Voraussetzungen für strafrechtliche Verurteilungen wegen Untreue verschärft. Dabei hatte das BVerfG in drei miteinander verbundenen Verfahren insbesondere über die Anwendung und Auslegung des Untreuetatbestands (§ 266 Abs. 1 StGB) unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebotes des Art. 103 Abs. 2 GG zu entscheiden. Die Beschwerdeführer waren wegen Untreue verurteilt worden und mit dem Argument nach Karlsruhe gezogen, der weit gefasste Straftatbestand der Untreue verstoße gegen das Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes.
§ 266 Abs. 1 StGB in der heute gültigen Fassung lautet:
„Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen ermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Den Versuch der Untreue hat der Gesetzgeber nicht unter Strafe gestellt.
Sachverhalt
Die Beschwerdeführer in den vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts entschiedenen Verfahren sind wegen Untreue zu Bewährungsstrafen verurteilt worden; der Bundesgerichtshof hat ihre Verurteilungen zumindest im Schuldspruch bestätigt.
Der Beschwerdeführer im ersten Verfahren verwaltete nach den strafgerichtlichen Feststellungen als Bereichsvorstand der Fa. Siemens AG Gelder auf „schwarzen Kassen“, entzog diese so dem Zugriff der zuständigen Unternehmensorgane und verwendete sie später zu Bestechungszwecken.
Der Beschwerdeführer im zweiten Verfahren war Vorstand einer Betriebskrankenkasse und schädigte deren Vermögen dadurch, dass er Angestellten der Krankenkasse in Überschreitung des ihm zustehenden Entscheidungsspielraums über mehrere Jahre hinweg zusätzlich zu deren Gehalt und der Vergütung geleisteter Überstunden Prämien in erheblicher Höhe bewilligte.
Die Beschwerdeführer im dritten Verfahren waren Vorstandsmitglieder der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank AG; ihnen lag zur Last, unter Verletzung ihrer der Bank gegenüber bestehenden Informations- und Prüfungspflichten einen unzureichend gesicherten Kredit für die Anschaffung und Modernisierung von Plattenbauwohnungen über knapp 20 Mio. DM bewilligt und ausgezahlt zu haben.
Entscheidung des BVerfG
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss die auch im juristischen Schrifttum zum Teil bezweifelte Verfassungsmäßigkeit des gesetzlichen Tatbestandes des § 266 Abs. 1 bejaht. § 266 Abs. 1 StGB sei mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar.
Verfassungsrechtliche Bedenken, die die Weite eines Straftatbestandes bei isolierter Betrachtung auslösen müsste, könnten durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung entkräftet werden. Die Rechtsprechung sei daher gehalten, verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (Präzisierungsgebot). Aufgrund des in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommenden strengen Gesetzesvorbehalts sei die Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Rechtsanwendung durch die Fachgerichte im Bereich des materiellen Strafrechts erhöht.
Zwar habe das Regelungskonzept des Gesetzgebers – im Interesse eines wirksamen und umfassenden Vermögensschutzes – zu einer sehr weit gefassten und verhältnismäßig unscharfen Strafvorschrift geführt. § 266 Abs. 1 StGB lasse jedoch das zu schützende Rechtsgut ebenso klar erkennen wie die besonderen Gefahren, vor denen der Gesetzgeber dieses mit Hilfe des Tatbestandes bewahren wolle. Der Untreuetatbestand lasse eine konkretisierende Auslegung zu, die die Rechtsprechung in langjähriger Praxis umgesetzt und die sich in ihrer tatbestandsbegrenzenden Funktion grundsätzlich als tragfähig erwiesen habe.
Den danach an die Auslegung des § 266 Abs. 1 StGB zu stellenden Anforderungen genügen die angegriffenen Verurteilungen in den ersten beiden Fällen nach Ansicht des BVerfG, nicht jedoch die Verurteilung der fünf Vorstände der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank AG wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 2 GG (dritter Fall).
Ihr Fall wurde an das Landgericht Berlin zurückverwiesen, um den konkreten Schaden bei der riskanten Kreditvergabe über rund zehn Millionen Euro zu beziffern. Selbst wenn wie in diesem Fall keine zureichende Bonitätsprüfung vorgenommen wurde, so sei die Gewährung eines riskanten Kredits für sich genommen noch lange kein Vermögensnachteil beziehungsweise Schaden. Es komme dabei nicht darauf an, dass ein vergebener Kredit wirklich notleidend werde. Ein strafrechtlich relevanter Schaden im Sinne des § 266 StGB liege auch vor, wenn durch die pflichtwidrige Gewährung eines Darlehens eine schadensgleiche Vermögensgefährdung eintritt, weil der Rückzahlungsanspruch gegen den Darlehensnehmer geringer ist. Diese Gefährdung zum Zeitpunkt der Kreditvergabeentscheidung müsse aber – nach Ansicht des BVerfG – den angeklagten Managern konkret nachgewiesen werden. Soweit komplexe wirtschaftliche Analysen vorzunehmen seien, müsse man Sachverständigen hinzuziehen. Die Entscheidungen des Landgerichts und des Bundesgerichtshofs verletzen mithin das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, weil sie einen Vermögensschaden angenommen haben, obwohl keine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende, wirtschaftlich nachvollziehbare Feststellungen zu dem Nachteil getroffen wurde, der durch die pflichtwidrige Kreditvergabe der Beschwerdeführer verursacht worden sein könnte.
Die Leitsätze dieses Beschlusses:
1. Der Untreuetatbestand des § 266 Abs. 1 StGB ist mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren.
2. Die Rechtsprechung ist gehalten, Unklarheiten über den Anwendungsbereich von Strafnormen durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (Präzisierungsgebot).
3. Der in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommende strenge Gesetzesvorbehalt erhöht die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.
Hier das Urteil im Volltext (29 Seiten als pdf-Dokument!)
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