BVerfG: Stabilitätsmechanismus und Fiskalpakt verfassungskonform
Vor kurzem hat des BVerfG zu Europäischem Stabilitätsmechanismus (ESM) und Fiskalpakt (v. 18.3.2014, Az. 2 BvR 1390/12 u.a.) entschieden. Das BVerfG hat den Stabilitätsmechanismus und den Fiskalpakt abgesegnet, gleichzeitig aber Leitlinien für die zukünftige Handhabung der Vertragsmechanismen durch die deutschen Staatsorgane aufgestellt.
Ansatzpunkt für die verfassungsrechtliche Kontrolle ist das in Art. 38 Abs. 1 GG verankerte Wahlrecht. Dieses umfasst auch eine Garantie der materiellen Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt. Das Wahlrecht ist deshalb auch dann verletzt, wenn sich die gewählten Organe in unzulässigem Umfang selbst ihrer Macht entledigen, indem sie diese auf eine andere Organisation – hier die Europäische Union – übertragen. Denn dann kann das deutsche Wahlvolk auf die Ausübung der Staatsmacht jedenfalls nicht mehr über Wahlen nach Art. 38 GG Einfluß nehmen (Rn. 159):
„Das durch Art. 38 Abs. 1 GG geschützte Wahlrecht gewährleistet als grundrechtsgleiches Recht die Selbstbestimmung der Bürger und garantiert die freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt (vgl. BVerfGE 37, 271 <279>; 73, 339 <375>; 123, 267 <340>). Sein Gewährleistungsgehalt umfasst die Grundsätze des Demokratiegebots im Sinne von Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, die Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung auch vor dem Zugriff durch den verfassungsändernden Gesetzgeber schützt …“ (Rn.159)
Im Zusammenhang mit Fiskalpakt und ESM entscheidendes Element des Demokratieprinzips ist auch die Kontrolle der vom Volk gewählten Vertreter über das Budget. Diese muss auch effektiv wahrgenommen werden können, insbesondere müssen die nötigen Informationen zur Verfügung stehen (Rn. 166).
„Art. 38 Abs. 1 GG wird insbesondere verletzt, wenn sich der Deutsche Bundestag seiner Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können (BVerfGE 129, 124 <177>; 132, 195 <239>, Rn. 106). Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand ist grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat (vgl. BVerfGE 123, 267 <359>; 132, 195 <239>, Rn. 106). Der Bundestag muss deshalb dem Volk gegenüber verantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden. Insofern stellt das Budgetrecht ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar (vgl. BVerfGE 70, 324 <355 f.>; 79, 311 <329>; 129, 124 <177>; 132, 195 <239>, Rn. 106), das auch in einem System intergouvernementalen Regierens Beachtung verlangt …“ (Rn. 161).
Es lässt sich auf den Punkt bringen (Rn. 162):
„Für die Einhaltung des Demokratiegebots kommt es entscheidend darauf an, dass der Bundestag der Ort bleibt, an dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird, auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten.“
Als Teil des Haushaltsrechts muss außerdem sichergestellt werden, dass der demokratische Prozess auch im Laufe der Zeit offen bleibt. Aufgrund anderer Mehrheitsentscheidungen müssen also rechtliche Umwertungen erfolgen können. Eine irreversible rechtliche Präjudizierung künftiger Generationen muss vermieden werden (Rn. 173). Der Bundestag kann also sein Haushaltsrecht auch nicht heute in der Form „ausüben“, dass er beispielsweise alle Staatseinnahmen auf die Europäische Union zur weiteren Verwendung überträgt.
Andererseits ist es aber zulässig, sich auf eine Stabilitätspolitik für die Zukunft zu verpflichten. Zwar werden dadurch die aktuellen Spielräume kleiner, gesichert werden jedoch die Spielräume für die (fernere) Zukunft. Denn eine langfristig besorgniserregende Entwicklung des Schuldenstandes würde die Spielräume jedenfalls faktisch verringern (Rn. 169). Diese Stabilitätspolitik kann auch auf europäischer Ebene umgesetzt werden, soweit dadurch keine irreversible Bindung eingegangen wird (Rn. 173). Hier und auch allgemein bei der Einschätzung der wirtschaftlichen Zusammenhänge hat der Gesetzgeber einen großen, vom BVerfG an verschiedenen Stellen stark betonten, Einschätzungsspielraum.
Ausgehend von diesen Maßstäben hielt das BVerfG die untersuchten Maßnahmen für verfassungsrechtlich unbedenklich.
I. Art. 136 Abs. 3 AEUV
Gegenstand der Entscheidung war zunächst die Einführung von Art. 136 Abs. 3 AEUV. Diesen hielt das BVerfG schon deshalb für zulässig, weil er selbst keine Einschränkungen der Haushaltskompetenz vorsieht. Er bestätigt sie vielmehr. Einschränkungen des Budgetrechts treten allenfalls ein, wenn die Mitgliedsstaaten von der Kompetenz Gebrauch machen, wenn also der Stabilitätsmechanismus auf Grund einer weiteren selbstständigen Entscheidung errichtet wird. Erst diese Entscheidung kann dann zu einer unzulässigen Beschränkung des Budgetrechts führen (Rn. 167).
II. ESM als solcher
Auch den ESM als solchen hält das BVerfG aber für verfassungskonform, da der Einfluss des Bundestages auf die finanziellen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und die Verwendung der Gelder hinreichend gesichert werden kann.
Materiell ausreichender Einfluss auf das Handeln des ESM
– das Handeln des Fonds bleibt demokratisch legitimiert.
- Wichtige Entscheidungen dürfen nur mit Zustimmung des deutschen Vertreters erfolgen – entweder weil Einstimmigkeitsprinzip gilt oder der deutsche Anteil eine Sperrminorität darstellt.
- Die Bindung des Vertreters an den Willen des Bundestages kann innerstaatlichen Gesetzgebung erreichen (Rn. 191).
- Allerdings muss der Einfluss gesichert sein. Insbesondere eine Verwässerung des Anteils darf jedenfalls nicht soweit gehen, dass die Bundesrepublik ihre Sperrminorität verliert. Daher muss die Bundesrepublik ihre Veto-Möglichkeiten auch beim Beitritt neuer Mitglieder, die zu einer Verschiebung des Kapitals und daher zu einer Änderung des deutschen Anteils führen können, durchsetzen (Rn. 192ff.)
- Um den Einfluss sicherzustellen, muss der Bundestag außerdem jederzeit dafür sorgen, dass die Anteile der Bundesrepublik fristgerecht eingezahlt werden (Rn. 200). Denn käme es in Folge von Zahlungsverzügen zu einer Aussetzung der Stimmrechte der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 4 Abs. 8 Satz 1 ESMV, liefe die innerstaatlich vorgesehene Beteiligung des Bundestages an den Entscheidungen der ESM-Organe für die Dauer der Stimmrechtsaussetzung leer. Damit entfiele aus deutscher Sicht zugleich die demokratische Legitimation und Kontrolle der in diesem Zeitraum getroffenen Entscheidungen (Rn. 199). Das ist freilich derzeit praktisch ausgeschlossen, so dass die Bedenken eher theoretischer Natur sind (vgl. Rn. 204).
Keine unbegrenzten Haftungsrisiken – Deutschland haftet nur für das, was vom Bundestag auch bewußt versprochen wurde.
- Die absolute Höhe der eingegangenen Zahlungsverpflichtungen von 190,0248 Milliarden Euro ist unproblematisch. „Eine unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgende Obergrenze für Zahlungsverpflichtungen und Haftungszusagen könnte, wie dargelegt, allenfalls überschritten sein, wenn die Haushaltsautonomie des Bundestages zumindest für einen nennenswerten Zeitraum praktisch vollständig leerliefe“ (Rn. 184).
- Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV begrenzt die Haftung der Mitglieder auf ihren jeweiligen Anteil am genehmigten Stammkapital und begrenzt die haushaltswirksamen Verpflichtungen. Durch diese Haftungsbegrenzung ist hinreichend sichergestellt, dass durch den ESM-Vertrag kein irreversibler Zahlungs- und Gewährleistungsautomatismus begründet wird. (Rn. 222). Durch gemeinsame Auslegungserklärung der Vertragsparteien des ESM-Vertrages vom 27. September 2012 (Rn. 188) ist auch völkerrechtlich verbindlich gesichert, dass dieses Verständnis gilt.
- Auch ansonsten droht keine Haftungserhöhung ohne deutsche Zustimmung: Kapitalerhöhungen können nur mit Zustimmung der Bundesrepublik vorgenommen werden. Auch die weitere Haftung für theoretisch denkbare Verluste ist vertretbar, weil die Bundesrepublik einen ausreichenden Einfluss hat, diese zu vermeiden (Rn. 216). Dieser Einfluss muss freilich auch sichergestellt werden (dazu oben).
III. Deutsches ESM-Zustimmungsgesetz
Auch das deutsche ESM-Zustimmungsgesetz erfüllt die Anforderungen im Hinblick auf seine Informationsrechte und die personelle Legitimation der deutschen Vertreter in den Organen des Europäischen Stabilitätsmechanismus, jedenfalls soweit man es verfassungskonform auslegt. Durch das Gesetz hat der Bundestag – vermittelt über die Bundesregierung – einen bestimmenden Einfluss auf das Handeln des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Hierdurch wird er in die Lage versetzt, seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung sowie die Integrationsverantwortung wahrzunehmen (Rn. 224).
IV. Fiskalpakt mit Zustimmungsgesetz
Auch der Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion beeinträchtigt nach Ansicht des BVerfG das Haushaltsrecht des Parlamentes nicht. Er sieht keine konkreten Maßnahmen vor, zudem stehen die Maßnahmen gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 3 SKSV unter dem Vorbehalt der Wahrung der parlamentarischen Vorrechte (Rn. 244).
V. Weitere wichtige Entscheidungen des BVerfG mit europarechtlichem Bezug
Besonders prüfungsrelevant ist sicherlich die Entscheidung vom 26.2.2014 (Az. 2 BvE 2/13 u.a.), in der das BVerfG die bislang bestehende 3%-Hürde für die Wahlen zum europäischen Parlament für nichtig erklärt hat. Wir haben bereits mit Musterantworten dargestellt, wie diese Entscheidung in einem Prüfungsgespräch abgeprüft werden könnte. Wer die Leitlinien der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG zum Wahlrecht kennt, ist hier gut gewappnet (dazu unser Beitrag ).
Ebenfalls relevant für die mündliche Prüfung ist der Vorlagebeschluss des BVerfG v. 14.1.2014 (Az. 2 BvR 2728/13). Die zu klärenden Rechtsfragen sind wohl zu weit vom Staatsexamensstoff weg, als dass sie selbst geprüft würden. Dass das BVerfG jedoch dem EuGH eine Frage zur Entscheidung vorlegt, ist sensationell. Wegen ihrer (rechts-)politischen Bedeutung sollte die Entscheidung daher bekannt sein. Das teilweise schwierige Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH – Stichwort: Ausbrechender Rechtsakt, Ultra-Vires-Kontrolle – wird durch diese Vorlagefrage weiter entwickelt. Die ambivalente Beziehung der Gerichte zwischen Machtkampf und Kooperationsverhältnis sollte ebenso bekannt sein wie die Ultra-Vires-Rechtsprechung des BVerfG (dazu unsere Beiträge zu Mangold und einer Rechtsprechungsübersicht zu dem Kooperationsverhältnis allgemein). Mit der Vorlage hat das BVerfG die – von den Verträgen allerdings gem. Art. 19 EUV auch eindeutig vorgesehene – Auslegungshoheit des EuGH über Europarecht anerkannt. Andererseits behält es sich weiterhin die Entscheidung vor, ob die vom EuGH in Beantwortung der Vorlagefrage gefundene Auslegung einen ausbrechenden Rechtsakt darstellt. Die Entscheidung kann auch Gelegenheit geben, Wissen zu der Vorlage nach Art. 267 AEUV abzufragen – das ist Standardwissen, das präsent sein muss.
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