BGH: Verwirklichung von Mordmerkmalen vor der Tötungshandlung?
Der BGH hat sich jüngst in einer überaus examensrelevanten Entscheidung (Beschluss vom 26.03.2020 – 4 StR 134/19, NStZ 2020, 609) mit einer ganz grundsätzlichen Problematik befasst, die sich im Kern auf folgende Frage reduzieren lässt: Können Mordmerkmale bereits mehrere Tage vor dem späteren Totschlag verwirklicht werden, sodass dieser zum Mord avanciert?
I. Sachverhalt (leicht abgewandelt und vereinfacht)
Der Sachverhalt liest sich wie ein Hollywood-Krimi:
Der Täter T mietete eine Lagerhalle, die er mit Schallisolierung ausstattete und abdunkelte, um wohlhabende Geschäftsleute dorthin entführen zu können und so an hohe Bargeldbeträge zu gelangen. Der Tatplan sah wie folgt aus: Die Opfer sollten unter einem falschen Vorwand in die betreffende Lagerhalle gelockert, dann überwältigt und unter Todesandrohung zur Beschaffung hoher Bargeldmengen bewegt werden, bevor sie nach Erhalt des Bargeldes schließlich getötet werden sollten, um die Straftataufdeckung zu verhindern und somit im Besitz des Bargeldes bleiben zu können.
T spiegelte im Umsetzung eben dieses Plans dem wohlhabenden Geschäftsmann G wahrheitswidrig vor, die Lagerhalle verkaufen zu wollen, als er sich mit diesem in der Stadt traft; es handele sich um eine lohnende Immobilieninvestition. Um die Lagerhalle sodann zu begutachten, fuhren T und G gemeinsam zur besagten Lagerhalle. Dort angekommen brachte T den G in seine Gewalt, indem er plötzlich eine Pistole aus seinem Mantel zog und dem G drohte, ihn umzubringen. Er fesselte ihn, zerrte ihn in den unter der Lagerhalle liegenden Keller und forderte 1 Mio. Euro Lösegeld. G solle, so T, seine Freunde, Bekannten und Familienmitglieder anrufen und diesen vorspiegeln, er wolle die Lagerhalle erwerben und benötige hierzu eine große Summe Bargeld. G tat wie ihm geheißen; T hielt ihn zu diesem Zweck mehrere Tage unter weiteren Todesdrohungen in dem Keller gefangen, damit G glaubhaft mehrere Anrufe tätigen konnte. Die Summe von 1 Mio. Euro kam tatsächlich zusammen. T fuhr mit einem Transporter, in dessen Ladefläche der gefesselte G saß, zu einem mit den Geldgebern vereinbarten Treffpunkt in der Stadt. T gab sich als Geschäftspartner des G aus und nahm das gesammelte Bargeld entgegen. Danach tötete er den G. Strafbarkeit des T?
II. Gutachterliche Vorüberlegungen
T hat durch das geschilderte Verhalten recht eindeutig eine schwere räuberische Erpressung mit Todesfolge nach §§ 253, 255, 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. b), 251 StGB in Tateinheit (§ 52 StGB) mit einem räuberischen Menschenraub mit Todesfolge gemäß §§ 239a Abs. 1, 3 StGB begangen. Im Hinblick auf die schwere räuberische Erpressung wäre in einer Examensklausur auf die Konstellation einer Dreieckserpressung einzugehen (schließlich erhält T das Bargeld nicht von G selbst, sondern von Menschen, die in einem Näheverhältnis zu G stehen, sodass möglicherweise eine Dreieckspressung vorliegt, dafür Reitzig, RÜ 2020, 573, 574; a.A. mit überzeugender Begründung Jäger, JA 2020, 867, 869: G sei sowohl Genötigter als auch selbst Geschädigter, weil ihn ein Darlehensrückzahlungsanspruch seiner Gläubiger treffen, sodass eine Dreieckserpressung ausscheide), im Hinblick auf den räuberischen Menschenraub auf die Strafbarkeit im Zwei-Personen-Verhältnis (Notwendigkeit einer stabilen Bemächtigungslage). Bzgl. der jeweils verwirklichten Erfolgsqualifikation wäre auf den notwendigen Risikozusammenhang und die Leichtfertigkeit hinzuweisen. Zu erwägen wäre ferner noch ein eigennütziger Eingehungsbetrug zu Lasten der Geldgeber in mittelbarer Täterschaft, §§ 263 Abs. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB (näher Jäger, JA 2020, 867, 869 f.).
Weiterführender Hinweis: Da der obige Sachverhalt um die in dem BGH-Fall zusätzlich vorliegende Mittäterschaft bereinigt wurde, kann der Sachverhalt ohne weitere Mühen um Probleme der Zurechnung objektiver Tatbeiträge nach § 25 Abs. 2 StGB erweitert werden.
Die rechtliche Beurteilung der Tötung des G nach § 211 StGB stellt sich jedoch als besonders problembehaftet dar. Als Mordmerkmale kommen Heimtücke, Verdeckungsabsicht und Habgier in Betracht. Bevor sich der Begutachtung genähert werden kann, ist daran zu erinnern, dass die genannten Mordmerkmale grundsätzlich im Zeitpunkt der Tatbegehung vorliegen müssen, so verlangt es das Koinzidenzprinzip. Hier handelte T im Zeitpunkt der Tötungshandlung aber möglicherweise gar nicht mehr heimtückisch, schließlich war G schon mehrere Tage im Keller der Lagerhalle gefangen und musste mit einem Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit rechnen. Möglicherweise handelte T auch nicht mit Verdeckungsabsicht, denn den Entschluss zur Tötung des G zur Spurenbeseitigung fasste er schon vorher, als er die Lagerhalle präparierte; und auch eine etwaige Habgier des T ist fraglich, denn im Zeitpunkt der Tötung des G war T ja schon längst im Besitz des Bargeldes. Im Einzelnen:
III. Die Entscheidung des BGH in wertender Betrachtung
1. Zunächst bejaht der Senat Heimtücke, also das bewusste Ausnutzen der auf der Arglosigkeit des Opfers beruhenden Wehrlosigkeit in feindlicher Willensrichtung. Maßgeblicher Zeitpunkt der Arglosigkeit ist eigentlich der erste mit Tötungsvorsatz geführte Angriff, bei dem das Opfer hier aber auf Grund der angewendeten Gewalt und fortwährenden Todesdrohungen nicht mehr arglos war. Der BGH macht hiervon indes eine Ausnahme, indem er seine Vorverlagerungsrechtsprechung bestätigt und partiell weiterentwickelt, wonach es ausnahmsweise ausreicht, wenn der Täter das Opfer in eine Falle lockt, sich so eine günstige Gelegenheit zur Tötung schafft und eben diese günstige Gelegenheit noch bis zur Tötung fortwirkt (ausführlich hierzu Schauf, NStZ 2019, 585). Die Fortwirkung der eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeit bis zur Tat begründet also die Heimtücke im Tatzeitpunkt. Zur Arglosigkeit führt der 4. Strafsenat des BGH aus:
„Wird das Tatopfer in einen Hinterhalt gelockt oder ihm eine raffinierte Falle gestellt, kommt es daher nicht mehr darauf an, ob es zu Beginn der Tötungshandlung noch arglos war. Ausreichend ist, dass der Täter das Tatopfer unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit im Vorbereitungsstadium der Tat in eine wehrlose Lage bringt, er bereits in diesem Moment mit Tötungsvorsatz handelt und die so geschaffene Wehrlosigkeit bis zur Tatausführung ununterbrochen fortbesteht.“
Dies führt indes unmittelbar zum Folgeproblem der Wehrlosigkeit:
„Infolge seiner Arglosigkeit wehrlos ist dann auch derjenige, der in seinen Abwehrmöglichkeiten fortdauernd so erheblich eingeschränkt ist, dass er dem Täter nichts Wirkungsvolles mehr entgegenzusetzen vermag […]. Hiervon ist auszugehen, wenn das Opfer in eine Situation gebracht wird, in der es gehindert ist, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen oder den Täter durch verbale Einwirkung noch von seinem Plan abzubringen.“
Der Umstand, dass G sich zunächst wehrte und später bei seinen zahlreichen Telefonaten theoretisch die Möglichkeit hatte, Hilfe herbeizurufen, reicht nicht aus, weil er fortdauernd per vorgehaltener Schusswaffe mit dem Tod bedroht wurde.
Damit steht nach der Rechtsprechung des BGH fest: „Wer sein argloses Opfer in Tötungsabsicht in eine Falle lockt und es dadurch in eine andauernde wehrlose Lage bringt, tötet auch dann heimtückisch, wenn er die durch die Arglosigkeit herbeigeführte Wehrlosigkeit tatplangemäß vor der Umsetzung seines Tötungsvorhabens zu einem Raub oder einer räuberischen Erpressung ausnutzt.“
Das mag man kritisieren, nicht nur, da sich der BGH damit von dem eigentlichen Wortgehalt der Heimtücke entfernt (so Jäger, JA 2020, 867, 870) und damit Bestimmtheitsbedenken nach Art. 103 Abs. 2 GG nährt, sondern auch, weil er zur Begründung des angesichts der absoluten Strafandrohung restriktiv auszulegenden Mordmerkmals auf eine Hilfskonstruktion zurückgreift, die die Heimtücke letztlich extensiv interpretiert (kritisch auch Schauf, NStZ 2019, 585, 593, wenngleich zu einem leicht anderes gelagerten Fall). Diese Vorverlagerungsrechtsprechung führt streng genommen dazu, dass nicht mehr die heimtückische Tötungshandlung, sondern die heimtückische Vorbereitungshandlung Anknüpfungspunkt des Mordmerkmals ist (Schiemann, NJW 2020, 2421, 2424) – was Zweifel an der Wahrung des Koinzidenzprinzips keimen lässt. Dabei ist es gerade bei so zentralen Mordmerkmalen wie der Heimtücke wichtig, dass es einen verlässlichen zeitlichen Bezugspunkt gibt (das mahnt auch Drees, NStZ 2020, 609, 612 an).
Andererseits können nur auf diese Weise Fälle erfasst werden, in denen der Täter bewusst eine Lage schafft, in der das Opfer sich nicht mehr verteidigen kann, und eben diese Lage später zur Tötung ausnutzt – etwas, das der Gesetzgeber als so verwerflich ansieht, dass er hierfür eigens das Mordmerkmal der Heimtücke geschaffen bzw. beibehalten hat. Warum also sollte man den Zeitpunkt der Arglosigkeit nicht mit dem BGH vorverlagern können und es ausreichen lassen, dass der Täter bei der Tötung die fortbestehende Wehrlosigkeit ausnutzt? Das Gerechtigkeitsgefühl mag hierfür streiten, die Dogmatik eher dagegen. Kurzum: Hier besteht viel Argumentationspotenzial.
2. Die Annahme von Verdeckungsabsicht ist dagegen weit weniger problematisch. Verdeckungsabsicht liegt vor, wenn der Täter jedenfalls mit Eventualvorsatz tötet, um hierdurch absichtlich eine vorangegangene Straftat als solche oder auch Spuren zu verdecken, die bei einer näheren Untersuchung Aufschluss über bedeutsame Tatumstände, insbesondere zur Täterschaft, geben könnten. Aber kann auch eine weit vor der Tötungshandlung gebildete Verdeckungsabsicht genügen? Der BGH antwortet ganz klar mit Ja:
„Der Umstand, dass die spätere Tötung im Zeitpunkt der Begehung der zu verdeckenden Tat bereits geplant war, steht der Annahme eines Verdeckungsmordes nicht entgegen, wenn es sich bei der zu verdeckenden Vortat und der Tötung um ein zweiaktiges Geschehen handelt.“
Dass die Tötung zur Verdeckung der anderen Tat (hier der schweren räuberischen Erpressung bzw. des erpresserischen Menschenraubs) von langer Hand geplant war, steht dem Mordmerkmal richtigerweise nicht entgegen, liegt darin doch ein deutlich verwerflicheres Verhalten als in einem affektiv-situativen Entschluss zur Verdeckung (einen höheren Unrechtsgehalt sieht hierin auch Jäger, JA 2020, 867, 870), zumal der Entschluss zur Verdeckungsabsicht im vorliegenden Fall über Tage hinweg immer wieder aktualisiert wurde (instruktiv Drees, NStZ 2020, 609, 612). Bei der Verdeckungsabsicht kann mithin auf den Zeitpunkt der Tötungshandlung abgestellt werden, ohne auf Hilfskonstruktionen zurückgreifen zu müssen. Probleme bereiten nur anders gelagerte Fälle, in denen es um ein einaktiges Geschehen geht, der Täter also die Spuren der Tötung selbst verwischt (Schiemann, NJW 2020, 2421, 2424).
3. Ebenso wenig dürfte es überraschen, dass in der hiesigen Konstellation Habgier, also rücksichtsloses Gewinnstreben um jeden Preis, zu vereinen ist. Denn die Summe von 1 Mio. Euro Bargeld hatte T im maßgeblichen Zeitpunkt der Tötungshandlung längst erhalten. Die Sicherung eines bereits erhaltenen Gewinns aber kann nur dann zur Annahme von Habgier führen, wenn das zu Grunde liegende Vermögensdelikt noch unbeendet ist; ist es dagegen – so wie die räuberische Erpressung hier – beendet, kann die Tötung zur Gewinnsicherung allein von der Verdeckungsabsicht erfasst werden. Denn dann kann der Grund für das Mordmerkmal nicht mehr abgebildet werden, der darin liegt, dass der Täter selbst um den Preis eines Menschenlebens nach materiellen Vorteilen strebt.
IV. Fazit
Wegen der Vielzahl der argumentativ aufzuarbeitenden Probleme, sowohl bei den Vermögens-, als auch bei den Nicht-Vermögensdelikten, bietet sich die Entscheidung geradezu für eine Examensklausur an. Ein Wiederholung und Vertiefung der aufgezeigten Fragestellungen ist daher anzuraten.
Merken sollte man sich zu § 211 StGB jedenfalls:
- Heimtücke liegt nach dem BGH ausnahmsweise auch dann vor, wenn die vom Täter geschaffene, günstige Lage, die die Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers einschränkt, bis zur Tat fortwirkt. Oder anders: Der Zeitpunkt der Arglosigkeit wird auf den (noch nicht tödlichen) Erstangriff vorverlagert, während die hierbei geschaffene Wehrlosigkeit bis zum tödlichen Angriff fortwirkt.
- Der Annahme von Verdeckungsabsicht steht es nicht entgegen, wenn der Täter die Tötung zur Spurenbeseitigung und Verhinderung der späteren Aufdeckung des Vermögensdelikts schon von langer Hand geplant hat.
- Und zuletzt: Habgier liegt nicht vor, wenn der Täter den Gewinn bereits vor der Tat erlangt hat, die spätere Tötung also nicht mehr dem Gewinnstreben, sondern der Gewinnsicherung gilt – schließlich gibt es gerade hierfür das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht.
Sollte alles – außerhalb von Fernsehkrimis und Kriminalromanen – einigermaßen verdächtig wirken können, ebenso eventuell für beteiligte Freunde und Angehörige, welche, ohne Beteiligung eines Notars o.ä. und ohne sonstige erkennbare Sicherheiten, sofort eine größere Summe Bargeld an Fremde übergeben sollten.
Die Erörterungen in den Urteilsgründen können teils befremdlich wirken.
Aber können Angehörige das denn wirklich?
Wie sollen Angehörige unter einem falschen Vorwand in eine Lagerhalle gelockert sein können?
Wenn die Angehörigen locker sind geht das !!