BGH: Rechtsprechungsänderung zum Pflichtteilsergänzungsanspruch (§ 2325 BGB)
Rechtsprechungsänderungen des Bundesgerichtshofs sind für die Klausur immer relevant, selbst dann, wenn es sich um ein Nebengebiet wie das Erbrecht und um einen eher unbekannten Anspruch wie den Pflichtteilsergänzungsanspruch aus § 2325 BGB handelt. Aus diesem Grund sollte das Urteil des BGH vom 23.05.2012 (IV ZR 250/11) – Pressemitteilung hier – zumindest bekannt sein.
Das Problem
Inhaltlich geht es um die Fragestellung, wann ein Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB besteht. Im konkreten Fall lag die Problematik darin, dass die – unstrittig – Pflichtteilsberechtigten (geb. 1976 und 1978) zum Zeitpunkt der Schenkung (vor 1976), die den Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 Abs. 1 BGB erst auslöst, noch nicht geboren waren und damit zu diesem Zeitpunkt – logischerweise – noch nicht pflichtteilsberechtigt waren. Zum Zeitpunkt des Erbfalls (2006) lag die Pflichtteilsberechtigung hingegen bereits vor.
Fraglich ist damit, welcher Zeitpunkt für § 2325 BGB maßgeblich ist.
Frühere Ansicht des BGH
Nach der bis jetzt vom BGH vertretenen Ansicht galt die Theorie der Doppelberechtigung: ein Pflichtteilsanspruch musste damit sowohl zum Zeitpunkt der Schenkung als auch zum Zeitpunkt des Erbfalls bestehen (vgl. BGHZ 59, 210 sowie BGH IV ZR 233/96).
Begründet wurde dies mit einer Auslegung des § 2325 BGB. Da der Wortlaut uneindeutig ist, war auf den Sinn und Zweck zurückzugreifen. Der BGH hatte hier insbesondere den Ehegattenpflichtteil im Auge, der dann nicht ergänzt werden sollte, wenn die Ehe zum Zeitpunkt der Schenkung noch nicht bestand. Dargelegt wurde:
Pflichtteilsergänzungsansprüche können gerechterweise nur solche Schenkungen auslösen, die zu einer Zeit gemacht worden sind, als das rechtliche Verhältnis, das den Pflichtteilsanspruch begründet oder aus dem der Pflichtteilsberechtigte hervorgegangen ist, schon bestand. Danach kann der Ehegatte keine Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend machen wegen Schenkungen, die vor Eingehung der Ehe gemacht worden sind. Ebenso können die ehelichen Abkömmlinge Pflichtteilsergänzungsansprüche nur aus Schenkungen herleiten, die ihre Eltern nach Eingehung der Ehe gemacht haben.
Der kennzeichnende Sachverhalt für den Pflichtteilsergänzungsanspruch, nämlich die Beeinträchtigung des Bestandes durch die Schenkung, bezieht sich auf den im Zeitpunkt der Schenkung Pflichtteilsberechtigten. Seine Erberwartung, die sich auf den Bestand im Zeitpunkt der Schenkung stützen kann, läuft wegen dieser Schenkung leer. Er muß wieder eingesetzt werden in seinen Stand vor der Schenkung. Das führt zu einer Einschränkung des Schutzgedankens. Er kann nicht für denjenigen zum Zug kommen, der nicht schutzbedürftig ist. Wer erst nach der Schenkung Pflichtteilsberechtigter wird, bedarf nicht der Wiedereinsetzung.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass man zum Zeitpunkt der Schenkung schon unmittelbar pflichtteilsberechtigt gewesen sein muss. Es genügt, dass sich eine Pflichtteilsberechtigung aus dem Wegfall anderer Personen ergibt (bspw. Tod der Eltern). Notwendig war nur, dass abstrakt die Pflichtteilsvoraussetzungen bestehen.
Neue Rechtsprechung
Von dieser Rechtsprechung hat sich der BGH jetzt abgewandt und die Voraussetzungen eines Pflichtteilsergänzungsanspruchs erweitert. Der BGH hat entschieden:
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 Abs. 1 BGB setze nicht voraus, dass die Pflichtteilsberechtigung bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestand. Seine dem entgegenstehende frühere Rechtsprechung, die eine Pflichtteilsberechtigung sowohl im Zeitpunkt des Erbfalls als auch der Schenkung forderte (Urteile vom 21. Juni 1972 – IV ZR 69/71, BGHZ 59, 212, und vom 25. Juni 1997 – IV ZR 233/06, ZEV 1997, 373), sog. Theorie der Doppelberechtigung, hat der Senat insoweit aufgegeben.
Es genügt damit, dass die Pflichtteilsvoraussetzungen zum Zeitpunkt des Erbfalls vorliegen.
Über die Begründung des BGH lässt sich nur spekulieren, liegt das Urteil bis dato nur als Pressemitteilung vor. Maßgeblich scheint neben Wortlaut und Entstehungsgeschichte erneut der Sinn und Zweck der Norm zu sein. Geschützt werden soll eine „Mindestteilhabe naher Angehöriger am Vermögen“. Dies ist davon abhängig zu machen, ob der Pflichtteilsberechtigte bereits geboren war oder noch nicht, erscheint willkürlich. Gleiches muss jetzt auch für den Fall der noch nicht geschlossenen Ehe gelten.
Nicht erforderlich ist, wie der BGH bereits in seinen vorherigen Urteilen dargestellt hat, eine Schädigungsabsicht des Erblassers hinsichtlich einer konkreten Person bzw. hinsichtlich aller potentiellen Pflichtteilsberechtigten. Geschützt werden soll lediglich deren Interesse an einer Teilhabe – unabhängig, ob dieses vorsätzlich oder unvorsätzlich verletzt wurde.
Besonderheit: Frist des § 2325 Abs. 3 BGB
Explizit hinzuweisen ist noch auf die besonderen Fristen des § 2325 Abs. 3 BGB. Diese sind – im konkreten Fall – nach § 2325 Abs. 3 S. 3 BGB aber irrelevant, da eine Schenkung unter Ehegatten vorlag, sodass die Frist erst mit dem Ende der Ehe (also dem Tod) zu laufen beginnt. Dass zwischen Schenkung und Erbfall damit 30 Jahre liegen, ist somit irrelevant.
Examensrelevanz
Für das Examen sollte diese Problematik zumindest grob bekannt sein; eine Kenntnis der Argumentation kann hingegen kaum erwartet werden. Hier helfen allerdings die bekannten Auslegungsmethoden weiter – auch der BGH hat sich hierauf zurückgezogen.
Die Problematik lässt sich in einer Klausur sehr gut mit anderen erbrechtlichen Problematiken verknüpfen, so dass sie durchaus als prüfungsrelevant angesehen werden muss. Auch für eine mündliche Prüfung eignet sie sich perfekt; hier kommt es dann auch darauf an, den § 2325 Abs. 3 BGB zu finden.
„…noch nicht geboren waren und damit zu diesem Zeitpunkt – logischerweise – noch nicht Pflichtteilsberechtigt waren.“
Was ist denn mit § 1923 Abs. 2 BGB? Lässt sich nicht argumentieren, der nasciturus sei auch schon abstrakt pflichtteilsberechtigt, so dass ihn auch schon die Schenkung trifft?
Du hast natürlich völlig Recht. Auch wenn ich keinen expliziten Nachweis gefunden habe, so muss natürlich aufgrund der von dir genannten Norm die Zeugung und nicht die Geburt maßgeblich sein. Insofern habe ich mich etwas ungenau ausgedrückt.
Am Ergebnis ändert dies natürlich nichts, denn entgegen der älteren Rechtsprechung muss der (jetzt) Pflichtteilsberechtigte zum Schenkungszeitpunkt noch nicht gezeugt sein.
Es müsste doch unter dem Punkt „Besonderheit: Frist des § 2325 Abs. 3 BGB“ richtig heißen:
…“nach § 2325 Abs. 3 S. 3 BGB“ heißen. Dort ist doch die Hemmung des Fristablaufs geregelt.
Ist geändert.
Hallo Herr Stiebert, habe im Jahr 2000 meinen Hälfteanteil des Haus- und Grundbesitzes an meine Frau übertragen. Wohnrecht in Form eines Mietnutzungsrechtes ist notariell festgehalten. Ist es richtig, dass bei einem eingetragenen Nießbrauchsrecht die 10 Jahre Verjährungsfrist bei Pflichtanteilsergänzungsanspruch nicht in Kraft tritt?
Für eine entsprechende Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Freundliche Grüße