BGH: Fiktive Schadensberechnung und Bedeutung des Sachverständigengutachtens für die Reparaturkosten
Der BGH hat sich wieder einmal mit der Ersatzpflicht des Schädigers hinsichtlich der Reparaturkosten bei einem Verkehrsunfall befasst (BGH VI ZR 231/09 vom 14. Dezember 2010 ). Im konkreten Fall ging es um die Frage, ob der Geschädigte Anspruch auf die Reparaturkosten hat, wenn es ihm gelungen ist, die Reparatur besonders günstig mittels Einbau von Gebrauchtteilen durchführen zu lassen, obwohl die Reparaturkosten laut Gutachten über der „130%-Grenze“ angesetzt waren. Im gleichen Zuge äußert sich der BGH zudem zu der Art und Weise der sog. fiktiven Schadensberechnung. (vgl. weitere Artikel zum Thema: hier und hier)
Sachverhalt:
Das Sachverständigengutachten hatte ergeben, dass die Reparatur des beschädigten Fahrzeugs über der vom BGH aufgestellten 130%-Grenze (BGH VI ZR 70/04) bei über 3000 Euro liegen würde. Der Restwert des Pkw belief sich auf 800 Euro, der Wiederbeschaffungswert auf 2200 Euro. Die Geschädigte hatte daraufhin das Fahrzeug mittels Gebrauchtteilen fachgerecht reparieren lassen, wobei die Reparaturkosten 2.139,70 Euro nicht überstiegen. Neben Nutzungsersatz und Nebenkosten, zahlte der Schädiger auch die tatsächlich entstandenen Reparaturkosten.
Die Geschädigte verlangt zusätzlich die Differenz der fiktiven Reparaturkosten bis zur 130%-Grenze in Höhe von 720,30 Euro.
Die Vorinstanz bejahte den Anspruch der Geschädigten
Das LG Hannover hat den Anspruch der Geschädigten gemäß der gängigen Praxis zur fiktiven Schadensberechnung bejaht.
Ein erforderlicher Reparaturaufwand bis zu 130% des Wiederbeschaffungswerts des Fahrzeugs könne grundsätzlich verlangt werden, wenn die durch Sachverständigengutachten ermittelten Reparaturkosten diesen Betrag überstiegen und der Geschädigte durch eine fachgerechte Reparatur zum Ausdruck bringe, dass er das Fahrzeug in einen Zustand wie vor dem Unfall versetzen wolle. Diese Voraussetzungen lägen nach dem Gutachten des Gerichtssachverständigen vor. Das Fahrzeug der Klägerin sei unter Verwendung von Gebrauchtteilen fachgerecht repariert worden, da die verwendeten Ersatzteile den beschädigten Fahrzeugteilen gleichwertig seien.
Nur tatsächliche Reparaturkosten sind zu ersetzen
Der BGH ist anderer Auffassung und konkretisiert im gleichen Zuge den Sinn und Zweck der 130%-Grenze im Schadensrecht. Demnach sei in erster Linie der tatsächlich entstandene Schaden zu ersetzen.
Insoweit begehrt die Klägerin den Ersatz fiktiver Reparaturkosten in Höhe von bis zu 130% des vom Sachverständigen ermittelten Wiederbeschaffungswerts, obwohl für die tatsächlich durchgeführte Reparatur nur Kosten in Höhe von 2.139,70 € angefallen sind. Nach der Rechtsprechung des Senats können jedoch Reparaturkosten, die über dem Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs liegen, bis zur so genannten 130%-Grenze nur verlangt werden, wenn sie tatsächlich angefallen sind und die Reparatur fachgerecht und zumindest wertmäßig in einem Umfang durchgeführt wird, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat (vgl. Senatsurteile vom 15. Februar 2005 – VI ZR 70/04, BGHZ 162, 161, 167 ff.; vom 8. Dezember 2009 – VI ZR 119/09, VersR 2010, 363 Rn. 5 ff.). Entgegen der Auffassung der Klägerin ist damit nicht die generelle Möglichkeit einer fiktiven Schadensabrechnung bis zur 130%-Grenze eröffnet. Die Klägerin kann mithin über die bereits gezahlten konkret angefallenen Reparaturkosten hinaus nicht den Ersatz weiterer Reparaturkosten verlangen.
Nicht im Widerspruch zu den Schätzungen im Gutachten
Bedenken bezüglich des Umstands, dass die Reparaturkosten im Gutachten oberhalb der 130%-Grenze liegen und damit die Kalkulation von Reparaturkosten dem Geschädigten generell nicht eröffnet sei, räumt der BGH aus und verweist darauf, dass eine Reparatur auch im Falle eines „wirtschaftlichen Totalschadens“ nicht unzulässig ist.
Lässt der Geschädigte sein Fahrzeug dennoch reparieren, so können die Kosten nicht in einen vom Schädiger auszugleichenden wirtschaftlich vernünftigen Teil (bis zu 130% des Wiederbeschaffungswerts) und einen vom Geschädigten selbst zu tragenden wirtschaftlich unvernünftigen Teil aufgespalten werden (vgl. Senatsurteile vom 15. Oktober 1991 – VI ZR 67/91, BGHZ 115, 375, 378 ff.; vom 10. Juli 2007 – VI ZR 258/06, VersR 2007, 1244 Rn. 6).
Daher könne erst recht auch ein „Unterbieten“ der offiziell angesetzten Reparaturkosten zu einem entsprechen Schadensersatzanspruch führen, solange zumindest der Wiederbeschaffungswert nicht überschritten wird.
Jedenfalls unter solchen Umständen, bei denen zwar die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten über der 130%-Grenze liegen, es dem Geschädigten aber – auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen – gelungen ist, eine […] fachgerechte und den Vorgaben des Gutachtens entsprechende Reparatur durchzuführen, deren Kosten den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigen, kann ihm aus dem Gesichtspunkt des Wirtschaftlichkeitsgebots eine Abrechnung der konkret angefallenen Reparaturkosten nicht verwehrt werden.
Fazit:
Die 130%-Grenze ist kein Freibrief, einen Schadensersatzanspruch in dieser Höhe geltend machen zu können. Gelingt es dem Geschädigten, den Schaden kostengünstiger bei fachgerechter Ausführung entsprechend dem im Gutachten bezeichneten Umfang zu beseitigen, beschränkt sich der Schadensersatz auf die tatsächlich entstandenen Reparaturkosten. Dies deckt sich mit dem Zielsetzung der von der Rechtsprechung entwickelten 130%-Grenze: Dem Geschädigten wird die generelle Möglichkeit eingeräumt bis 30% über den Wiederbeschaffungswert im Sinne wirtschaftlich „vernünftigen“ Handelns hinauszugehen. Hierbei geht es in erster Linie um den tatsächlichen Erhalt des Fahrzeugs, obwohl der Schädiger streng genommen auch „günstiger davonkommen“ könnte. Dem Geschädigten soll damit ausnahmsweise im Bereich von Pkw-Schäden ein wirtschaftlicher Vorteil eingeräumt werden. Ein genereller Anspruch auf 130% des Wiederbeschaffungswertes würde dieses Recht überspannen.
Schwierig wird es dagegen dann, wenn die Reparaturkosten laut Gutachten über den 130% liegen. Grundsätzlich ist der Schädiger gehalten, entweder den Wiederbeschaffungsaufwand (hier: Kosten der Wiederbeschaffung minus Restwert = 1400 Euro) oder die prognostizierten Reparaturkosten nach den hierfür geltenden Regeln einzuklagen. Letzteres wäre aufgrund der Höhe der angesetzten Kosten hier grundsätzlich nicht möglich. Stellt sich jedoch heraus, dass die Reparatur doch kostengünstiger und fachgerecht ausführbar ist, kann der Schädiger den Geschädigten allein auf das Gutachten verweisen, da auch an dieser Stelle dem Gesichtspunkt des Wirtschaftlichkeitsgebots Vorrang eingeräumt werden muss.
Nachtrag:
In einem aktuellen Urteil wurde diese Rechtsprechung bestätigt (BGH VI ZR 79/10, 8.Februar 2011).
In der genannten Entscheidung wird überdies darauf hingewiesen, dass der Geschädigte ggf. beweisen muss, inwieweit das Gebot der Wirtschaftlichkeit bei der Reparatur eingehalten worden ist. Dies gelte insbesondere dann, wenn die Reparaturkosten nur deswegen innerhalb der 30%-Grenze geblieben sind, weil die Reparaturwerkstatt einen Rabatt gegeben hat und sich die Beweggründe für den Nachlass nicht ohne weiteres feststellen lassen.