BGH: Arbeitnehmerbürgschaft ist nicht per se sittenwidrig!
Wir freuen uns sehr, nachfolgend einen Gastbeitrag von Tobias Vogt veröffentlichen zu können. Der Autor war am Institut für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn tätig und ist derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Flick Gocke Schaumburg.
In einer aktuellen Entscheidung vom 11.09.2018 – XI ZR 380/16 stellt der BGH klar, dass auch Bürgschaften des Arbeitnehmers für Verbindlichkeiten seines Arbeitgebers in der Regel nur dann nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig sind, wenn bei Eintritt des Sicherungsfalls eine krasse finanzielle Überforderung des Arbeitnehmers zu erwarten ist. Mit diesem Urteil entscheidet der BGH einen zuvor bestehenden Streit in Literatur und Instanzrechtsprechung. Allein deshalb liegt die Examensrelevanz dieser Entscheidung auf der Hand. Sie eignet sich insbesondere deshalb für juristische Prüfungen, da Raum für eine ausgiebige Argumentation besteht und sich die Frage der Übertragbarkeit sowohl der Rspr. des BGH zu Bürgschaften in persönlichen Näheverhältnissen sowie der Rspr. des BAG zur Belastung des Arbeitnehmers mit dem Betriebs- und Wirtschaftsrisiko des Arbeitgebers stellt.
I. Sachverhalt
Die Arbeitgeberin der Beklagten geriet in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, es drohte sogar die Insolvenz. Daraufhin gewährte die Klägerin der Arbeitgeberin ein Darlehen über 150.000 €, unter der Voraussetzung von Personalsicherheiten. Auf Bitten der Geschäftsführung der Arbeitgeberin (im Folgenden auch Hauptschuldnerin) übernahmen die Beklagten jeweils eine unwiderrufliche, unbedingte, unbefristete und selbstschuldnerische Bürgschaft für sämtliche Ansprüche der Klägerin gegen die Hauptschuldnerin aus diesem Darlehensvertrag. Nachdem schließlich das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Hauptschuldnerin eröffnet wurde, nahm die Klägerin die Beklagten gesamtschuldnerisch auf Zahlung der 150.000 € nebst Zinsen in Anspruch, §§ 765 Abs. 1, 421 BGB. Die Beklagten beriefen sich auf die Sittenwidrigkeit der Bürgschaft nach § 138 Abs. 1 BGB.
Das LG Offenburg wies die Klage ab. Auch die Berufung vor dem OLG Karlsruhe hatte keinen Erfolg, da das OLG die Bürgschaft als sittenwidrig erachtete.
II. Bisherige BGH-Rspr. zur Sittenwidrigkeit von Bürgschaften
„Ein Rechtsgeschäft ist sittenwidrig i.S.d. § 138 Abs. 1 BGB und damit nichtig, wenn es nach seinem aus dem Zusammenhang von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren ist, wobei die Verhältnisse im Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäftes maßgebend sind“ (BGH, Urteil vom 11.09.2018 – XI ZR 380/16; vom 28.04.2015 – XI ZR 378/13). Bislang standen überwiegend Bürgschaften von Ehegatten, Lebensgefährten oder engen Verwandten oder Freunden im Fokus. Zur Frage der Sittenwidrigkeit solcher Bürgschaften in einem persönlichen Näheverhältnis liegt gefestigte Rspr vor. Demnach besteht bei einer krassen finanziellen Überforderung des mit dem Hauptschuldner in einem persönlichen Näheverhältnis stehenden Bürgen nach allgemeiner Lebenserfahrung ohne Hinzutreten weiterer Umstände die tatsächliche Vermutung, dass er die ruinöse Bürgschaft allein aus emotionaler Verbundenheit übernommen hat und der Gläubiger dies in sittlich anstößiger Weise ausnutzte (BGH, Urteil vom 25.02.2005 – XI ZR 28/04, m.w.N.). Es bedarf also im Ausgangspunkt einer krassen finanziellen Überforderung des Bürgen. Diese liegt grds. vor, wenn der Bürge voraussichtlich bei Eintritt des Sicherungsfalls nicht einmal die Zinslast aus dem pfändbaren Teil seines Einkommens oder Vermögens dauerhaft tragen kann (BGH, Urteil vom 14.10.2003 – XI ZR 121/02; sowie Urteil vom 25.02.2005 – XI ZR 28/04). Dies ist aufgrund einer Prognose aller erwerbsrelevanten Umstände und Verhältnisse – wie z.B. Alter, Schul- und Berufsbildung sowie besonderer familiärer oder vergleichbarer Belastungen – zu beurteilen (BGH, Urteil vom 25.02.2005 – XI ZR 28/04, m.w.N.). Die tatsächliche Vermutung, dass der Bürge die ihn krass finanziell überfordernde Bürgschaft allein aus emotionaler Verbundenheit übernommen hat, kann widerlegt werden, bspw. wenn der Bürge ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der Auszahlung des Darlehens hat. Nur mittelbare Vorteile reichen dabei jedoch nicht aus. Auch die Vermutung, dass der Darlehensgeber diese Umstände in sittlich anstößiger Weise ausgenutzt hat, kann wiederlegt werden. Dazu muss dieser jedoch nachweisen, dass für ihn trotz sorgfältiger Überprüfung die krasse finanzielle Überforderung des Bürgen nicht zu erkennen war (BGH Urteil vom 15.11. 2016 – XI ZR 32/16).
Über die Sittenwidrigkeit einer Arbeitnehmerbürgschaft hatte der BGH erstmals im Jahr 2003 zu entscheiden (Urteil vom 14.03.2003 – XI ZR 121/02). Der IX Zivilsenat entschied, dass eine vom Arbeitnehmer aus Angst vor Verlust seines Arbeitsplatzes übernommene Bürgschaft für einen Bankkredit seines Arbeitgebers sittenwidrig ist, wenn sie den Arbeitnehmer krass finanziell überfordert und sich der Arbeitgeber in einer wirtschaftlichen Notlage befindet. Zwar bestehe hier kein emotionales Näheverhältnis, das den Bürger an einer freien Entscheidung hindert. Dennoch bestehe jedoch auch hier eine Zwangslage, da der Arbeitnehmer bei einer drohenden Insolvenz des Arbeitgebers seinen Job verlieren würde. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit bestehe eine tatsächliche Vermutung dafür, dass der krass finanziell überforderte Bürge die Bürgschaft allein aus Angst um seinen Arbeitsplatz und den Verlust seines Einkommens, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestreitet, übernommen habe. Auch bestehe bei einem Arbeitgeber, der nicht an der Arbeitgeberin in der Rechtsform einer GmbH beteiligt ist und somit auch nicht an Gewinnen und Wertsteigerungen dieser profitiert, kein unmittelbares eigenes wirtschaftliches Interesse, das diese Vermutung widerlegen könnte.
III. Meinungsstreit: Sittenwidrigkeit der Arbeitnehmerbürgschaft auch ohne krasse finanzielle Überforderung?
Der BGH erwähnte in seiner Entscheidung vom 14.03.2003 ein Urteil des BAG (Urteil vom 10.10.1990 – 5 AZR 404/89), wonach ein nicht am Gewinn beteiligter Arbeitnehmer nicht mit dem Betriebs- und Wirtschaftsrisiko des Arbeitgebers belastet werden darf. Dies führte dazu, dass eine Mindermeinung in Literatur und Rspr. eine Arbeitnehmerbürgschaft schon aus diesem Grund für sittenwidrig erachtet, auch ohne eine krasse finanzielle Überforderung. Ausreichend sei, dass der Arbeitnehmer keinen angemessenen Ausgleich für die Bürgschaft erhält, diese aus Angst vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes übernimmt und der Gläubiger diese Umstände kennt und ausnutzt (OLG Karlsruhe, Urteil vom 08.03.2007 – 9 U 151/06; Seifert, NJW 2004, 1707, 1709). Diese Ansicht vertraten auch die Vorinstanzen im vorliegen Fall.
Die herrschende Meinung forderte jedoch auch bei einer Arbeitnehmerbürgschaft eine krasse finanzielle Überforderung (Fischer, LMK 2004, 20; Heidrich, NJ 2004, 104, 105; Tiedke, EWiR 2003, 563, 564; s. in diese Richtung gehend bereits das KG Berlin, Urteil vom 25.04.1997 – 7 U 7496/96).
Letzterer Ansicht schloss sich auch der BGH in seiner aktuellen Entscheidung mit folgender Begründung an:
– Eine private Bürgschaft wird typischerweise unentgeltlich zur Unterstützung des Hauptschuldners in einer wirtschaftlichen Notlage erbracht. Dass der Arbeitnehmer keinen angemessenen Ausgleich erhält, kann daher auch bei Kenntnis des Gläubigers für sich keine Sittenwidrigkeit bergründen. Selbiges gilt für das naheliegende Motiv des Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz erhalten zu wollen.
– „Vielmehr wäre die Vertragsfreiheit in nicht gerechtfertigter Weise beschnitten, wenn etwa eine Arbeitnehmerbürgschaft auch dann sittenwidrig und damit nichtig wäre, wenn der bürgende Arbeitnehmer finanziell ausreichend leistungsfähig ist oder die Haftung für einen nicht erheblichen Betrag übernommen hat.“ So kann eine Arbeitnehmerbürgschaft bspw. für einen gut verdienenden, leitenden Angestellten ein hinnehmbares Risiko darstellen, das sich im Falle der erfolgreichen Sanierung des Arbeitgebers rentieren kann.
– Auch das Leitbild des Arbeitsrechts, wonach der Arbeitnehmer nicht mit dem Betriebs- und Wirtschaftsrisiko des Arbeitsgebers belastet werden darf, kann nicht die Sittenwidrigkeit des Bürgschaftsvertrags begründen. Denn dieser Grundsatz gilt im Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien. Davon zu trennen ist das Bürgschaftsverhältnis zwischen Bürge und Gläubiger. „Deswegen würde dieser Grundsatz […] allenfalls zur Sittenwidrigkeit einer zwischen dem Bürgen und dem Hauptschuldner getroffenen Vereinbarung – sei es Auftrag, Geschäftsbesorgungsvertrag oder Avalvertrag – führen. Auf Verpflichtungen des Bürgen aus dem Bürgschaftsvertrag haben Mängel des Innenverhältnisses zwischen Bürgen und Hauptschuldner jedoch grundsätzlich keine Auswirkungen“, so der BGH.
Dieser arbeitsrechtliche Grundsatz kann auch nicht entsprechend auf das Bürgschaftsverhältnis angewendet werden. Denn anders als im Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien können Bürgen „im Verhältnis zum Hauptschuldner ein wirtschaftliches Haftungsrisiko ohne Weiteres unentgeltlich übernehmen, sodass dieser Umstand nicht zugleich zur Begründung der Sittenwidrigkeit herangezogen werden kann“.
– Würde man im Falle einer Arbeitnehmerbürgschaft auf das Erfordernis der krassen finanziellen Überforderung verzichten, bestünde zudem ein Wertungswiderspruch zu der Beurteilung von Bürgschaften in persönlichen Näheverhältnissen. Es würden deutlich höhere Anforderungen an die Sittenwidrigkeit einer Bürgschaft bspw. eines Ehegatten oder nahen Familienangehörigen bestehen als an die Sittenwidrigkeit einer Arbeitnehmerbürgschaft. Dabei sind Bürgen in einem persönlichen Näheverhältnis zum Hauptschuldner typischerweise schutzwürdiger, da die Emotionen die Fähigkeit zu rationalem Handeln beeinträchtigen. In einem Arbeitsverhältnis stehen dagegen im Allgemeinen nicht Emotionen im Vordergrund, sondern die beidseitigen, oftmals sogar gegensätzlichen Interessen der Arbeitsvertragsparteien.
Da im zu entscheidenden Fall keine krasse finanzielle Überforderung der Beklagten festgestellt werden konnte, begründet auch die Tatsache, dass es sich bei den Bürgen um Arbeitnehmer der Hauptschuldnerin handelt, keine Sittenwidrigkeit.
IV. Sonstige die Sittenwidrigkeit begründende Umstände
Auch ohne krasse finanzielle Überforderung kann eine Bürgschaft sittenwidrig sein. Dazu bedarf es jedoch besonders erschwerender und dem Gläubiger zurechenbarer sonstiger Umstände, wie der BGH ausführt. „Daran wäre etwa zu denken, wenn die Klägerin in unzulässiger Weise auf die Entschließung der Beklagten durch die Tragweite der Haftung verhamlosende bzw. verschleiernde Erklärungen oder durch beschönigende Angaben über die wirtschaftlichen Verhältnisse und Aussichten der Hauptschuldnerin eingewirkt hätte.“ Ein solches Einwirken der Klägerin lag hier aber nicht vor. Die Beklagten wussten auch um die drohende Insolvenz der Hauptschuldnerin.
Der BGH stellt klar, dass es auch keinen solchen Umstand darstellt, dass die Kreditgeberin die Gewährung des Kredits von der Stellung einer Personalsicherheit abhängig gemacht hat. Dazu sei sie grds. berechtigt, weshalb darin keine unlautere Einwirkung auf den Bürgen gesehen werden kann.
V. Gegenanspruch aufgrund der Verletzung einer Hinweispflicht
Die Inanspruchnahme der Beklagten aus dem Bürgschaftsvertrag könnte dennoch scheitern. Denn die Beklagten machten geltend, dass es der Klägerin nicht um den Versuch einer Sanierung der Hauptschuldnerin, sondern ausschließlich darum gegangen sei, die Hauptschuldnerin am Leben zu erhalten, um die Werthaltigkeit eigener Grundpfandrechte an den Baugrundstücken infolge des Baufortschritts zu steigern. „Dient […] eine Bürgschaft tatsächlich nur der Sicherung eines Darlehens, mit dem der Gläubiger die Realisierung ansonsten nicht oder weniger werthaltiger Sicherheiten erreichen will, während der Bürge für den Gläubiger erkennbar davon ausgehen durfte und davon ausgegangen ist, die Bürgschaft sichere den Versuch einer Sanierung der Hauptschuldnerin, kommt eine Hinweispflicht des Gläubigers […] in Betracht“, führt der BGH in seiner aktuellen Entscheidung aus. Die Verletzung einer solchen Hinweispflicht kann einen Anspruch des Bürgen aus §§ 311 Abs. 1, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB auf Befreiung von dem für ihn nachteiligen Bürgschaftsvertrag begründen. Diesen kann er im Wege einer „dolo agit“-Einrede gemäß § 242 BGB dem Anspruch aus § 765 Abs. 1 BGB entgegenhalten. Das OLG Karlsruhe, an das der BGH die Sache zurückverwies, hat nun zu klären, ob die Voraussetzungen einer solchen Einrede vorliegen.
VI. Fazit
Entgegen einer Mindermeinung in Literatur und Rspr. ist eine Arbeitnehmerbürgschaft nicht schon dann sittenwidrig i.S.d. § 138 Abs. 1 BGB, wenn der Arbeitnehmer diese ohne angemessenen Ausgleich aus Angst vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes bei seiner in wirtschaftlicher Not befindlichen Arbeitgeberin übernimmt. Es bedarf wie im Falle einer Bürgschaft in einem persönlichen Näheverhältnis zudem eine krasse finanzielle Überforderung des Bürgen, die dann anzunehmen ist, wenn dieser bei Eintritt des Sicherungsfalls nicht im Stande ist, die Zinsen aus dem pfändbaren Teil seines Einkommens oder seines sonstigen Vermögens zu zahlen. Dem steht auch nicht der arbeitsrechtliche Grundsatz entgegen, dass der Arbeitnehmer nicht mit dem Betriebs- und Wirtschaftsrisiko des Arbeitgebers belastet werden darf. Denn dieser Grundsatz gilt nicht im Verhältnis des Bürgen zum Gläubiger und ist auch nicht auf dieses Verhältnis übertragbar.
Es ist zu empfehlen, sich die Argumente des BGH einzuprägen, um in einer Klausur mit einer entsprechend argumentativen Darstellung zu punkten. Auch sollte darauf geachtet werden, ob dem Sachverhalt Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Einwirken auf den Bürgen oder eine Verletzung einer Hinweispflicht zu entnehmen sind.
Die Entscheidung bietet Anlass auch die sonstigen Rechtsfragen in Zusammenhang mit einer Bürgschaft zu wiederholen. Hinzuweisen ist an dieser Stelle darauf, dass bei der Prüfung eines Anspruchs aus § 765 Abs. 1 BGB aufgrund der Akzessorietät der Bürgschaft (§ 767 Abs. 1 BGB) stets zunächst das Bestehen der Hauptschuld zu prüfen ist.
Es kann ein Sicherungsvertrag zwischen Darlehensgeber und Darlehensnehmer in Betracht kommen. Darin kann vertragsgemäß Sicherung durch Bürgschaft eines Dritten vorgesehen sein. Solcher Dritte kann daher in den Schutzbereich mit einbezogen sein. Damit können unter Umständen zulässige Einwände gegenüber dem Darlehensnehmer gegen den Bürgschaftsempfänger denkbar scheinen. So können eventuell noch Rechte etwa wegen mangelnder Lohnzahlung gegen eine Bürgenpflicht möglich bleiben.
die dolo agit Einrede ergibt sich aus §§311 Abs. 2,, 241 Abs.2, 280 Abs. 1 , nicht aus §§ 311 Abs. 1 … kann zu Verwirrungen führen, da man so auf die Idee kommen kann, diese Verletzung der Aufklärungspflicht aus einem Sicherungsvertrag herzuleiten.
Dolo agit…..?