BGH: Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar
Der BGH hat am heutigen Tag ein sensationelles Urteil (v. 25.6.2010 – 2 StR 454/09) gefällt. Die folgende Darstellung beruht auf der vom BGH herausgegebenen Presseerklärung. Die Aufbereitung als Gutachten entspricht nicht dem Originalurteil. Auch die Rechtsausführungen bestehen zum Teil aus Ergänzungen des Inhalts der Pressemitteilungen durch den Verfasser.
Sachverhalt
Frau K. lag seit Oktober 2002 in einem Wachkoma. Sie wurde in einem Pflegeheim über einen Zugang in der Bauchdecke, eine sog. PEG-Sonde, künstlich ernährt. Eine Besserung ihres Gesundheitszustandes war nicht mehr zu erwarten.
Entsprechend einem von Frau K. im September 2002 mündlich für einen solchen Fall geäußerten Wunsch bemühten sich die Geschwister, die inzwischen zu Betreuern ihrer Mutter bestellt worden waren, um die Einstellung der künstlichen Ernährung, um ihrer Mutter ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Nach Auseinandersetzungen mit der Heimleitung kam es Ende 2007 zu einem Kompromiss, wonach das Heimpersonal sich nur noch um die Pflegetätigkeiten im engeren Sinne kümmern sollte, während die Kinder der Patientin selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter im Sterben beistehen sollten.
Nachdem Frau G. am 20.12.2007 die Nahrungszufuhr über die Sonde beendet hatte, wies die Geschäftsleistung des Gesamtunternehmens am 21.12.2007 jedoch die Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Den Kindern der Frau K. wurde ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Darauf erteilte der Angeklagte P. Frau G. am gleichen Tag den Rat, den Schlauch der PEG-Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen. Der Angeklagte P ist ein für das Fachgebiet des Medizinrechts spezialisierter Rechtsanwalt. Nach den Feststellungen des Landgerichts beriet er die beiden Kinder der 1931 geborenen Frau K., nämlich die mitangeklagte Frau G. und deren inzwischen verstorbenen Bruder.
Frau G. schnitt Minuten später mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch durch. Nachdem das Heimpersonal dies bereits nach einigen weiteren Minuten entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet hatte, wurde Frau K. auf Anordnung eines Staatsanwalts gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie starb dort zwei Wochen darauf eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen.
Strafbarkeit der G und des P?
Strafbarkeit der G
A. §§ 212 Abs. 1 StGB an K durch Durchtrennen des Schlauches der PEG Sonde.
Indem sie den Schlaucht der PEG Sonde durchtrennte, könnte sich G wegen Totschlages an K gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben. Der Tod der K ist zwar eingetreten; hierfür war jedoch das Handeln der G war nicht ursächlich. Eine Strafbarkeit wegen vollendeten Totschlages scheidet damit aus.
B. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB an K durch Durchtrennen des Schlauches der PEG Sonde
Indem sie den Schlaucht der PEG Sonde durchtrennte, könnte sich G wegen versuchten Totschlages an K gem. § 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben.
I. Nichtvollendung, Versuchsstrafbarkeit
Der Tod ist später unabhängig von der Handlung der G eingetreten; Versuchsstrafbarkeit folgt aus §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB.
II. Tatentschluss
G wollte den Tod der K durch das Durchtrennen des Ernährungsschlauches herbeiführen.
III. Unmittelbares Ansetzen
Nach § 22 StGB müsste sie nach ihrer Vorstellung unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt haben. Vorliegend hat sie bereits die Handlung vorgenommen, die ihrer Vorstellung nach den tatbestandlichen Erfolg herbeiführen sollte, und somit unmittelbar angesetzt.
IV. Rechtswidrigkeit
Die Tat müsste auch rechtswirdrig gewesen sein.
[Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch des Verfasser dieses Artikels, die Entscheidung des BGH in eine Falllösung zu verpacken. Da sie nur auf der Presseerklärung des BGH beruhen, sind sie teilweise spekulativ. Der BGH hatte sich nicht mit der Strafbarkeit der K zu befassen, da diese vom Landgericht freigesprochen wurde. Das Landgericht hielt ihr Handeln nicht für gerechtfertigt. Weder käme eine Einwilligung noch Nothilfe (§ 32 Abs.1 StGB) ein rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB) in Betracht. Das Landgericht sprach sie jedoch frei, weil sie im Hinblick auf den Rat ihres Anwalts einem unvermeidlichen Verbotsirrtum gem. § 17 StGB unterlegen habe. Vor dem BGH wurde nur noch über den Anwalt verhandelt, der vom Landgericht wegen Todschlages in mittelbarer Täterschaft, §§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB, verurteilt hatte, verhandelt. Das Landgericht sah in der schuldlos handelnden K das Werkzeug des mittelbaren Täters P. In Lichte der Ausführungen des BGH hätte jedoch bereits die Strafbarkeit der K in der Begründung anders bewertet werden müssen.]
Vorliegend könnte die Tat durch eine Einwilligung der K gerechtfertigt sein. Eine Einwilligung zur Herbeiführung ihres Todes seitens der K könnte darin zu sehen sein, dass sie im Jahr 2002 im Hinblick auf eine solche Situation einen entsprechenden Willen mündlich äußerte. Allerdings ist zweifelhaft, ob G in ihre Tötung einwilligen kann. § 216 StGB, der die Tötung auf Verlangen ausdrücklich unter Strafe stellt, zeigt, dass grundsätzlich eine Einwilligung in die eigene Tötung nicht möglich ist. Dies gilt im Bereich der Sterbehilfe jedoch nicht unumschränkt. Lange war bereits anerkannt, dass jedenfalls passive Sterbehilfe d.h. ein Sterbenlassen etwa durch Behandlungsabbruch im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Patienten zumindest grundsätzlich zulässig ist. Dogmatisch lässt sich dies damit begründen, dass es sich in diesem Fall um ein Unterlassen handelt, das nur bei Verletzung einer Garantenpflicht (§ 13 Abs. 1 StGB) strafbar ist. Diese wurde aber – wenn der Wille des Patienten feststand – abgelehnt. Jedoch war hier im Detail vieles ungeklärt. Der BGH stellt fest:
„Die Frage, unter welchen Voraussetzungen in Fällen aktueller Einwilligungsunfähigkeit von einem bindenden Patientenwillen auszugehen ist, war zur Tatzeit durch miteinander nicht ohne weiteres vereinbare Entscheidungen des Bundesgerichtshofs noch nicht geklärt. Divergenzen in der Rechtsprechung betrafen die Verbindlichkeit von sog. Patientenverfügungen und die Frage, ob die Zulässigkeit des Abbruchs einer lebenserhaltenden Behandlung auf tödliche und irreversibel verlaufende Erkrankungen des Patienten beschränkt oder von Art und Stadium der Erkrankung unabhängig ist, daneben auch das Erfordernis der gerichtlichen Genehmigung einer Entscheidung des gesetzlichen Betreuers über eine solche Maßnahme. [..]
Das Landgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die durch den Kompromiss mit der Heimleitung getroffene Entscheidung zum Unterlassen weiterer künstlicher Ernährung rechtmäßig war und dass die von der Heimleitung angekündigte Wiederaufnahme als rechtswidriger Angriff gegen das Selbstbestimmungsrecht der Patientin gewertet werden konnte.“
Für die Ermittlung des Patientenwillens stellt der BGH entscheidend auf die Einwillung der G ab. Diese Bindungswirkung begründet der BGH mit der gesetzgeberischen Entscheidung, wie sie in § 1901a Abs. 3 BGB festgelegt wurde.
„Die im September 2002 geäußerte Einwilligung der Patientin, die ihre Betreuer geprüft und bestätigt hatten, entfaltete bindende Wirkung und stellte sowohl nach dem seit dem 1. September 2009 als auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs dar. Dies gilt jetzt, wie inzwischen § 1901 a Abs. 3 BGB ausdrücklich bestimmt, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung.“
§ 1901a
Patientenverfügung(1) Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.
(2) Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.
(4) Niemand kann zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet werden. Die Errichtung oder Vorlage einer Patientenverfügung darf nicht zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht werden.
Die Einwilligung bindet also die Handelnden. Dies ist bereits die erste wichtige Information. Kann sie aber auch eine aktiven Eingriff in das Rechtsgut Leben rechtfertigen? Der BGH bejaht dies:
„Der Gesetzgeber hat diese Fragen durch das sog. Patientenverfügungsgesetz mit Wirkung vom 1. September 2009 ausdrücklich geregelt. Der Senat konnte daher entscheiden, ohne an frühere Entscheidungen anderer Senate gebunden zu sein.
„[Die] Bewertung des Landgerichts [trifft] nicht zu, der Angeklagte habe sich durch seine Mitwirkung an der aktiven Verhinderung der Wiederaufnahme der Ernährung wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht. Die von den Betreuern – in Übereinstimmung auch mit den inzwischen in Kraft getretenen Regelungen der §§ 1901 a, 1904 BGB – geprüfte Einwilligung der Patientin rechtfertigte nicht nur den Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung diente. Eine nur an den Äußerlichkeiten von Tun oder Unterlassen orientierte Unterscheidung der straflosen Sterbehilfe vom strafbaren Töten des Patienten wird dem sachlichen Unterschied zwischen der auf eine Lebensbeendigung gerichteten Tötung und Verhaltensweisen nicht gerecht, die dem krankheitsbedingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf lasse.“
Im Ergebnis geht der BGH wohl davon aus, dass die „Einwilligungssperre„, die § 216 Abs. 1 StGB für das Rechtsgut Leben zieht, in systematischer Auslegung mit § 1901a StGB (Stichwort: Einheit der Rechtsordnung, Karl Engisch) zu begrenzen ist. Wie weit allerdings der von § 1901a BGB gedeckte Bereich reicht, ist unklar.
Der BGH orientiert sich wohl an § 1901a StGB: Über die Patientenverfügung kann der Patient in Untersuchungen des Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligen oder sie untersagen. Soweit ein solcher Wille gebildet ist, ist seine Umsetzung wohl von § 1901a BGB (bzw. der dahinterstehenden Abwägung zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht des Patienten) gedeckt und eine Einwilligung auch möglich, wenn sie sich auf das Rechtsgut Leben bezieht.
Insofern komme es nicht mehr auf die „formale“ Unterscheidung von Unterlassen und Handeln an. Dies ist konsequent und wird auch in der Literatur verbreitet gefordert (vgl. etwa Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 27. Auflage 2006, Vor §§ 211ff. StGB Rn. 31f.). Es ist tatsächlich seltsam, wenn die Nicht-Aufnahme einer Behandlung als Unterlassen straflos, die Einstellung derselben als aktives Tun aber unter Umständen strafbewehrt sein sollte.
Allerdings ist fraglich, ob § 1901a BGB wirklich alles deckt, was in eine Patientenverfügung geschrieben werden könnte. Das Gesetz ist recht weit (vgl. § 1901a Abs. 3 StGB „Die Absätze 1 und 2 gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.“) und nicht auf bereits sterbende Patienten beschränkt. Es ist zu möglich, dass versucht werden wird, die Patientenverfügung als Mittel zum ärtztlich durchgeführten Suizid zu mißbrauchen. Am einfachsten wäre, dass der Patient in einen ärztlich durchgeführten Suizid einwilligt. Dies wird aber wohl kaum mit dem Gesetz zu vereinbaren sein, auch wenn § 1901 Abs. 1 BGB nur ganz allgemein von „ärztlichen Eingriffen“ (könnte theoretisch auch die Verabreichung eines tödlichen Gifts sein) spricht. Denkbar sind jedoch auch Abstufungen: Etwa, dass sich ein Patient in ein künstliches Koma versetzen lässt und in seiner Patientenverfügung verfügt, nicht künstlich ernährt werden zu wollen.
Ob der BGH dies mitmacht, ist allerdings fraglich. Bereits die Presseerklärung spricht davon, dass man dem Sterbeprozess „seinen Lauf lassen“ solle. Dies könnte dafür sprechen, dass es nur um bereits sterbende Patienten gehen soll. Auf die Urteilsgründe darf man in jedem Fall gespannt sein.
Vorliegend kann eine genauere Abgrenzung dahinstehen. Der Fall liegt wertungsmäßig in der Nähe der bisher bereits anerkannten Fälle passiver Sterbehilfe. K ist bereits „dem Tode geweiht“, die künstliche Ernährung verlängert nur noch den Sterbeprozess. Deshalb war das Handlen der G gerechtfertigt.
V. Ergebnis
Das Handeln der G ist gerechtfertigt. Sie ist damit nicht strafbar.
B. Strafbarkeit des P
Auch diese (etwa gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 1, 26 StGB) scheidet aus, weil es an einer anschlussfähigen, rechtswirdigen Haupttat fehlt.
Examensrelevanz
Extrem hoch!!!! Hier lassen sich wunderbar strafrechtliche Klassiker wie die Rechtfertigungsgründe mit neuen Entwicklungen (§1901a StGB) und gesellschaftspolitisch hochinteressanten Fragen verbinden. Die grundlegenden Fragen der Sterbehilfe (aktiv, passiv usw.) musste man bereits vorher kennen, jetzt gilt es, die neue Entscheidung in alte Muster einzuordnen. Auch für das mündliche Examen gut geeignet, weil die Entscheidung eigenständiges Argumentieren erlaubt.
sehr gut!!!
danke! bringt licht ins dunkle
Gute Aufbereitung!
Beachtet bitte, dass der Anwalt vom LG zunächst wegen gemeinschaftlichen (§ 25 II), nicht wegen mittelbaren Todschlages (§ 25 I Alt. 2) verurteilt wurde. Die diesbezüglichen Erläuterung in der Klammer sind insofern unzutreffend.
Dazu auch noch ein paar Fragen:
a) Vielleicht kann jemand erklären, warum keine mittelbare Täterschaft geprüft wurde?
b) Und warum soll der Anwalt Täter und nicht nur Anstifter gewesen sein? Ich sehe weder Tatherrschaft noch einen irgendwie erkennebaren „Täterwillen“
c) Warum ist hier § 212 und nicht § 216 zu prüfen?
Vielen Dank!
Hi, deine Fragen lassen sich m.E. wie folgt beantworten:
a) Mittelbare Täterschaft kommt hier schon nicht im Betracht, da dem Anwalt die notwendige „beherrschende Rolle“ bei der Tatverwirklichung (sei es durch überlegenes Wissen oder Wollen) fehlt. Zu diesem Ergebnis werden wohl beide hierzu vertretenen Theorien kommen. Anprüfen wäre aber m.E. nicht völlig verkehrt.
b) Die Anstiftung zeichnet sich dadurch aus, dass der Hintermann auf den Haupttäter in der Weise einwirkt, dass bei diesem ein Tatentschluss hervorgerufen wird. Laut Sachverhalt bestand bei Frau G. bereits der generelle Wunsch, das Sterben ihrer Mutter zu ermöglichen, lediglich das Ob und Wie sollte durch Rat des Anwalts geklärt werden. Jedenfalls lag schon ein „Sterbehilfeversuch“ der G vor. In diesem Zusammenhang scheint es daher passender, die Handlungen der beiden von vornherein als ein „planvolles Zusammenwirken“ einzuordnen und auf das Anstiftungsproblem gar nicht erst einzugehen, da beide jedenfalls „arbeitsteilig“ (qualifzierter Rechtsrat + Ausführungshandlung der G) vorgegangen sind.
c) Eine Frage, die ich mir gestern auch schon zusammen mit einer Kommilitonin gestellt habe. Das Urteil gibt darüber keine Auskunft. Ich habe jedenfalls schon Klausurlösungen gesehen, die das Problem der Sterbehilfe im objektiven Tatbestand des § 216 StGB („Tötung“) einordnen.
Grüße
Hi Foolslena, Nico,
stimmt, es handelt sich um einen Fall des gemeinschaftlichen Totschlages. Vielen Dank für den wichtigen Hinweis.
a) Warum keine mittelbare Täterschaft?
Auch M.E. hätte mittelbare Täterschaft näher gelegen (auch wenn Du anderer Meinung bist Nico). Es wäre hier ohne weiteres möglich gewesen, die G als Werkzeug des P zu betrachten. Das sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befindliche Werkzeug ist ein klassischer Fall der mittelbaren Täterschaft (s. etwa Beck’schOKStGB/Kudlich, 11. Ed. 2010, § 25 Rn. 26). Allerdings ist es – zumindest nach dem BGH – ohne weiteres möglich, auch ohne Beteiligung an der Tatbegehung Mittäter zu sein:
Vgl. etwa BGH v. 21.4.1999 – 5 StR 714–98, NJW 1999, 2449: „Mittäterschaft liegt nach der Rechtsprechung des BGH dann vor, wenn ein Tatbeteiligter nicht bloß fremdes Tun fördern will, sondern seinen Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils will. Ob ein Beteiligter dieses enge Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfaßt sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte hierfür können gefunden werden im Grad des eigenen Interesses am Erfolg der Tat, im Umfang der Tatbeteiligung und in der Tatherrschaft oder wenigstens im Willen zur Tatherrschaft, so daß Durchführung und Ausgang der Tat maßgeblich von seinem Willen abhängen (BGH, NStZ-RR 1998, NSTZ-RR Jahr 1998 Seite 136 = StV 1998, STV Jahr 1998 Seite 540 m.w. Nachw.). Einer auf einem gemeinsamen Willen beruhenden – arbeitsteilig begangenen – Mittäterschaft steht mangelnde Eigenhändigkeit bei Mord nicht entgegen (BGHR StGB § STGB § 25 Abs. STGB § 25 Absatz 2 Tatinteresse 5). Die Annahme von Mittäterschaft erfordert auch nicht zwingend eine Mitwirkung am Kerngeschehen; es kann auch eine Mitwirkung im Vorbereitungsstadium des unmittelbar tatbestandsmäßigen Handelns genügen (BGHR StGB § STGB § 25 Abs. STGB § 25 Absatz 2 Mittäter 26).“
Letztlich stellte sich die Frage für den BGH hier nicht, da die Tatsacheninstanz einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Einordnung der Täterschaftsform hat. Wenn diese nicht angegriffen wird, gibt es für den BGH keinen Grund, sich damit auseinander zu setzen. Der BGH kann die Tatsachenermittlung und –würdigung der Tatsachengerichte nur auf Verstoß gegen Denkgesetze, Auslegungsgrundsätz oder ähnliches überprüfen.
b) Warum Täter und nicht Anstifter oder Gehilfe?
In der Falllösung hat sich die Frage nicht gestellt, da er mittelbarer Täter war. Ich denke beides wäre vertretbar, zumindest den Gehilfen bekäme man durch. Aber auch hier: es ist eine Frage des Einzelfalls und wenn die Tatsacheninstanz den P als Täter einstuft, dann kann der BGH hiergegen nichts machen. Der BGH kümmert sich um Rechtsfragen und kann nicht eine andere tatsächliche Wertung an die Stelle des Instanzgerichtes setzen.
c) Warum § 212 und nicht § 216 StGB?
Man hätte auch § 216 StGB prüfen können. Angesichts der sehr dürftigen Angaben über die Einwilligung wird man wohl kaum von einem ausdrücklichen und ernsthaften Verlangen sprechen können. Die Problematik der Einwilligung, auf die es hier ankam, hätte sich in gleicher Weise gestellt.
Hinweise zur Urteilsbegründung:
Inzwischen ist die Urteilsbegründung veröffentlicht (https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=bf6a4e0c89b189e684d95d9724d2f522&nr=52999&pos=0&anz=1).
Die Leitsätze sind:
1. Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht (§ 1901a BGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.
2. Ein Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden.
3. Gezielte Eingriffe in das Leben eines Menschen, die nicht in einem Zusam-menhang mit dem Abbruch einer medizinischen Behandlung stehen, sind einer Rechtfertigung durch Einwilligung nicht zugänglich.
BGH, Urteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 – LG Fulda
Insbesondere zum Zusammenspiel von §§ 1901a BGB und §§ 216, 228 StGB:
„Im Übrigen ergibt sich schon aus dem grundsätzlich schrankenlosen und die unterschiedlichsten betreuungsrechtlichen Fallgestaltungen erfassenden Wortlaut des § 1901a BGB selbst, dass die Frage einer strafrechtlichen Rechtfertigung von Tötungshandlungen nicht nur als zivil-rechtsakzessorisches Problem behandelt werden kann. Wo die Grenze einer rechtfertigenden Einwilligung verläuft und der Bereich strafbarer Tötung auf Verlangen beginnt, ist, ebenso wie die Frage nach der Reichweite einer eine Körperverletzung rechtfertigenden Einwilligung (§ 228 StGB), eine strafrechts-spezifische Frage, über die im Lichte der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden ist Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte diese Grenze durch die Regelungen der §§ 1901a ff. BGB nicht verschoben werden (BT-Drucks. 16/8442 S. 9). Die §§ 1901a ff. BGB enthalten aber auch eine verfahrensrechtliche Absicherung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten, die selbst zu einer Willensäußerung nicht (mehr) in der Lage sind. Sie sollen gewährleisten, dass deren Wille über den Zeitpunkt des Eintritts von Einwilligungsunfähigkeit hinaus gilt und beachtet wird. Diese Neuregelung, die ausdrücklich mit dem Ziel der Orientierungssicherheit für alle Beteiligten geschaffen wurde, muss unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung (vgl. Reus JZ 2010, 80, 83 f.) bei der Bestimmung der Grenze einer möglichen Rechtfertigung von kausal lebensbeendenden Handlungen berücksichtigt werden.“
Johannes
Vielen Dank für eure Kommentare, sehr hilfreich!
Die Beantwortung meiner ersten zwei Fragen scheint sich auch ganz überzeugend aus der Begründung des Urteils des LG Fulda zu ergeben (Rn. 44ff):
„1) Diese Handlung ist ihm aber im Wege der Mittäterschaft mit der Angeklagten N. N. gemäß § 25 Abs. 2 StGB zuzurechnen.
44 So hatte der Angeklagte N. N. zum einen maßgebliche Tatherrschaft inne, da die Angeklagte N. N. auf seine zeitnahe telefonische Anweisung hin den Versorgungsschlauch durchtrennte. Zudem zerstreute er während des Telefonats unmittelbar vor der Tat noch rechtliche Bedenken der Angeklagten N. N. und ihres Bruders. Beide vertrauten ihm, zumal er seit Monaten in die Angelegenheit involviert war und Gespräche und Schriftwechsel mit der Angeklagten N. N., dem Pflegeheim, dem behandelnden Arzt Dr. N. N. sowie mit dem Vormundschaftsgericht in Bad Hersfeld geführt hatte.
45 Zum anderen handelte er mit Täterwillen. Auch er wollte die Durchführung der Tat. Er hatte als Anwalt von Frau N. N., vertreten unter anderem durch die gesetzliche Betreuerin, die Angeklagte N. N., ein Eigeninteresse, den Willen seiner Mandantin, in Würde sterben zu können, zum Erfolg zu verhelfen.
46 Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller dieser objektiven Umstände und der Motivation des Angeklagten erweist sich demnach sein Verhalten als mittäterschaftlich.
47 2) Aufgrund des oben unter 1) Gesagten liegt gerade keine bloße Anstiftung gemäß § 26 StGB zum Totschlagsversuch vor, da der Angeklagte N. N. die Tat als eigene wollte und in erheblichem Maße Tatherrschaft ausübte.
48 3) Auch eine Zurechnung des Verhaltens der Angeklagten N. N. im Wege der – wie zunächst angeklagten – mittelbaren Täterschaft gemäß § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB scheidet aus. Zwar hat der Angeklagte N. N. bei der Angeklagten N. N. einen Irrtum über das Verbotensein ihrer Handlung ausgelöst und ihr weiteres Verhalten aufgrund seines Einflusses gesteuert. Allerdings hat der Angeklagte N. N. die Angeklagte N. N. nicht bewusst als menschliches Werkzeug missbraucht, da er sich ebenfalls in einem Irrtum über das Verbotensein seines Verhaltens befand, worauf unten unter 4. c) noch näher eingegangen wird. Unschädlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Angeklagte N. N. wegen eines bei ihr vorliegenden unvermeidbaren Verbotsirrtums gem. § 17 S. 1 StGB freigesprochen wurde (vgl. dazu unten unter VI.), da gem. § 29 StGB jeder Beteiligte ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen nach seiner Schuld bestraft wird.“
Bliebt die Frage offen, warum nicht § 216 geprüft wurde, zumal die Rspr. ja davon ausgeht das dieser ein eigenständiger, die §§ 211, 212 sperrender, Tatbestand ist und keine bloße Privilegierung. Aber vermutlich werden an das ernsthafte Verlangen höhere Anforderungen gestellt als an eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten?
„Aber vermutlich werden an das ernsthafte Verlangen höhere Anforderungen gestellt als an eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten?“
Das würde ich i.E. auch so sehen, immerhin wird für § 216 eine, der Anstiftung nicht unähnliche Beeinflussung des Täters vorausgesetzt („Verlangen“, vgl. SK-Joecks, § 216 Rz. 5).Ein bloßes Einverständnis soll gerade nicht ausreichen. Fraglich könnte sein, wie dies auf Patientenverfügungen zu übertragen ist. Möglicherweise kommt es in diesem Bereich auch auf die jeweilige Formulierung der Patientenverfügung an.
Ansonsten Danke für die umfangreichen Erläuterungen. Wie immer top!
Hi, aber ist es denn nicht so, dass man mit dem §216 sowieso nicht durchkommen kann, da in der Prüfung der objektive Tatbestand des §212 verlangt wird?
Daraufhin hätte ich noch eine Frage, die mich beschäftigt. Ist der Anwalt nun durch die Einwilligung des Opfers in einer Prüfung der Mittäterschaft gerechtfertigt? Denn die Handlung gemäß des versuchten Totschlages der Tochter war es ja.
Ps:Danke für die vorangegangenen Erläuterungen…Wirklich hilfreich
Ja, ist er. Steht im Urteil des BGH genauso da.
Vielen Dank für die schnelle Antwort:-)
Hallo allerseits,
mal ne Frage: Wieso wird Mittäterschaft angenommen?? Reicht der gegebene Ratschlag vom Anwalt aus, um einen Tatplan und auch einen Tatbeitrag anzunehmen?? Soweit ich bisher nämlich in dem Kommentaren gelesen habe, werden Ratschläge eher als Beihilfe § 27 angesehen.
Hoffe ihr könnt mir da etwas Klarheit geben!
LG