Die Ersatzfähigkeit von Untersuchungs- und Behandlungskosten
Wir freuen uns heute einen Gastbeitrag von Johannes Jungmann veröffentlichen zu können. Er ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Mannheim. In seinem Artikel schreibt er eine Anmerkung zum BGH Urteil vom 17.09.2013 – VI ZR 95/13.
1. Der Fall
Die vorliegende Entscheidung beschäftigt sich mit den Folgen eines Verkehrsunfalls, konkret mit der Ersatzfähigkeit von Untersuchungs- und Behandlungskosten. Der Unfall führte zu einem Sachschaden am Pkw, für Verletzungen der beiden Insassen gab es aber zunächst keine Anzeichen. Erst am Folgetag stellten sie Beschwerden im Bereich von Hals und Nacken fest, so dass sie einen Arzt aufsuchten, um ihren Gesundheitszustand abklären und sich ggf. behandeln zu lassen. Die hierfür angefallenen Kosten macht die Klägerin, Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung, aus übergegangenem Recht (§ 116 Abs. 1 SGB X) gegen den beklagten Haftpflichtversicherer als Schadensersatz gemäß § 7 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB geltend.
2. Die Entscheidung des BGH
Der Bundesgerichtshof gelangt im Ergebnis zu keiner abschließenden Entscheidung, sondern hebt das Urteil aufgrund von Fehlern in der Beweiswürdigung auf und verweist die Sache zurück. Allerdings gibt der Bundesgerichtshof für die neue Verhandlung einige Hinweise. So kommt es für das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs gemäß § 7 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB entscheidend darauf an, ob die bei den Unfallopfern festgestellten Beschwerden auf den Unfall zurückzuführen sind oder nicht. Die bisherige Beweiswürdigung des LG Chemnitz zu diesem Punkt hielt der Bundesgerichtshof nicht für ausreichend.
Die Frage, ob der Unfall kausal zu einer Rechtsgutsverletzung geführt hat, ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs maßgeblich für die Ersatzfähigkeit der gesamten Kosten, d.h. sowohl der Untersuchungs- als auch der Behandlungskosten. Der bloße Verdacht einer Rechtsgutsverletzung reicht insoweit nicht aus.
„Sollte das Berufungsgericht nach erneuter Befassung – gegebenenfalls nach erneuter Zeugenvernehmung – zu dem Ergebnis gelangen, dass die von den Versicherten G. und F. geklagten Beschwerden vorhanden und unfallbedingt waren, hätte die Klägerin Anspruch auf Ersatz der Kosten für erfolgte medizinische Untersuchungen und Behandlungen, soweit diese erforderlich waren. Dazu zählen solche Heilbehandlungsmaßnahmen, die aus medizinischer Sicht eine Heilung oder Linderung versprachen. Zu ersetzen sind ferner die damit verbundenen Aufwendungen, zu denen auch etwaige Attestkosten zählen (vgl. MünchKommBGB/Oetker, 6. Aufl., § 249 Rn. 409).
Sollte das Berufungsgericht hingegen zu dem Ergebnis gelangen, dass die geklagten Beschwerden oder aber deren Unfallbedingtheit nicht bewiesen seien, bestünde entgegen der Auffassung der Revision keine Grundlage für einen Anspruch der Klägerin auf Ersatz der geltend gemachten Kosten. Dies gilt nicht nur für Behandlungskosten, sondern auch für Befunderhebungs- und Diagnosekosten. Die Aufwendungen für den Arzt und für die von ihm aufgrund seiner Verdachtsdiagnose eingeleiteten Maßnahmen und auch die Kosten eines von ihm ausgestellten Attestes, das der Geschädigte zur Durchsetzung seiner Ersatzansprüche wegen der vermeintlich erlittenen Personenschäden verwenden will, sind nur entschädigungspflichtig, wenn die angenommene Körper- oder Gesundheitsverletzung tatsächlich verifiziert wird (teilweise anders KG, NZV 03, 281), weil nur sie und nicht schon der Unfall als solcher gesetzlicher Anknüpfungspunkt für die Haftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB ist (OLG Hamm, r+s 2003, 434, 436 ff.; AG Nettetal, SP 2007, 211; AG Bottrop, SP 2008, 147 f.). In Fällen der Körperverletzung oder der Herbeiführung eines Gesundheitsschadens ist nur eine tatsächlich eingetretene Schädigung haftungsbegründend. Die bloße Möglichkeit oder der Verdacht einer Schädigung genügt dafür nicht.“
3. Stellungnahme
Die vorliegende Entscheidung wirkt zunächst, insbesondere wenn man nur den Leitsatz in den Blick nimmt, nicht sonderlich spektakulär. Die Tatsache, dass der Schädiger bei einem Unfall nur dann für die Kosten der ärztlichen Versorgung aufkommen muss, wenn erwiesen ist, dass es infolge des Unfalls zu einer Körperverletzung gekommen ist, stellt für sich genommen keine überraschende Erkenntnis dar. Es handelt sich insofern um die üblicherweise im Rahmen von § 7 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB zu prüfende Voraussetzung, ob das schädigende Ereignis in kausaler Weise zu einer Rechtsgutsverletzung geführt hat.
Betrachtet man jedoch die Gesamtsituation des vorliegenden Falles, so kann man zumindest an der Billigkeit dieses Ergebnisses zweifeln. Der Anlass für diese Zweifel ergibt sich daraus, dass das Verhalten der beiden Unfallopfer, die am Folgetag des Unfalls Beschwerden verspürten und deshalb einen Arzt aufsuchten, als vollkommen nachvollziehbar und vernünftig erscheint. Aus diesem Grunde lässt sich die Frage aufwerfen, ob es auch im Hinblick auf die Kosten für die Untersuchungen, mit denen der Gesundheitszustand der Unfallopfer überhaupt erst abgeklärt wurde, gerecht ist, einen Ersatzanspruch zu versagen.
Entscheidend kommt es darauf an, welche Seite billigerweise das Risiko zu tragen hat, dass eine ex ante erforderlich erscheinende Untersuchung zu dem Ergebnis führt, dass keine unfallbedingte Körperverletzung vorliegt.
Ein Ansatz, der das Risiko auf den Unfallverursacher übertragen würde, könnte darin bestehen, bereits in der nach dem Unfall eingetretenen Situation, dass eine ärztliche Abklärung des Gesundheitszustandes notwendig wird, eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) als sonstiges Recht gemäß § 823 Abs. 1 BGB zu sehen. Es ließe sich erwägen, ob durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht das Recht gewährleistet wird, stets über den eigenen Gesundheitszustand im Bilde zu sein. Dass durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht derartige Rechte auf Kenntnis bestimmter Umstände durchaus eingeräumt werden, zeigt sich u.a. an der bereits anerkannten Fallgruppe des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung (BVerfGE 90, 263, 270).
Gegen eine Parallele hierzu spricht aber, dass § 823 Abs. 1 BGB die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit – anders als etwa die Abstammung – bereits als ausdrücklich benannte absolute Rechte schützt. Daraus folgt, dass eine Haftung in diesem Bereich nach der Systematik des § 823 Abs. 1 BGB nur dann vorgesehen ist, wenn eine Verletzung dieser Rechtsgüter bewiesen ist. Dieses Erfordernis würde ausgehebelt, wenn man im Rahmen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein Recht auf Kenntnis des eigenen Gesundheitszustandes anerkennt. Auf diesem Weg gelangt man nämlich schon dann zu einer Haftung für die Kosten einer ärztlichen Behandlung, wenn der bloße Verdacht einer Körper- oder Gesundheitsverletzung vorliegt, was nach der Systematik des § 823 Abs. 1 BGB gerade nicht ausreicht. Insofern ist der Schutz von Körper und Gesundheit in § 823 Abs. 1 BGB abschließend und kann nicht durch eine zusätzliche Fallgruppe des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ausgedehnt werden.
Steht fest, dass es infolge des Unfalls nicht zu einer Körperverletzung gekommen ist, so muss davon ausgegangen werden, dass die Beschwerden dementsprechend auch ohne den Unfall aufgetreten wären; in diesem Fall fielen möglicherweise entstehende Diagnosekosten grundsätzlich nicht in den Verantwortungsbereich eines Dritten. Deshalb könnte man die Kosten für die Untersuchung dem Unfallverursacher allenfalls mit dem Argument anlasten, dass sich das Bedürfnis nach einer ärztlichen Untersuchung gerade aus der Kombination aus den aufgetretenen Schmerzen und dem Wissen um den Unfall des Vortages ergibt. Dann läge nämlich eine kausale Verursachung der Untersuchungskosten bereits durch den Unfall selbst vor.
Dies ist jedoch abzulehnen, da man dem Verursacher eines Unfalls auf diese Weise die Haftung für Untersuchungen von Beschwerden auferlegt, welche zufälligerweise zeitlich mit dem Unfall zusammentreffen. Je nach Art der auftretenden Beschwerden können die vorzunehmenden Untersuchungen im Einzelfall durchaus aufwändig und teuer sein, so dass es unbillig wäre, den Unfallverursacher hierfür haften zu lassen, wenn sich ex post herausstellt, dass die bei den Untersuchungen festgestellten Verletzungen nicht auf sein Verhalten zurückzuführen sind.
Die Kosten für eine ärztliche Kontrolle der Beschwerden sind folglich dem allgemeinen Lebensrisiko des Unfallopfers zuzuordnen, sofern die Unfallbedingtheit der diagnostizierten Verletzungen nicht festgestellt werden kann.
Der vom Bundesgerichtshof geäußerten Rechtsauffassung ist somit zuzustimmen.
Zwei Aspekte sprechen für eine Kostenlast des Unfallverursachers: Der zeitliche Zusammenhang, der bei einer Untersuchung am Folgetag gewahrt ist, und der medizinisch (bekanntermaßen) betroffene Halswirbelbereich. Bei lebensnaher Betrachtung und Wertung sind jedenfalls die Kontrolluntersuchungen dem Verursacher aufzubürden – er ist der Veranlasser dieser Untersuchungen. Alles andere ist lebensfremd.
1) Wie in der Stellungnahme ja richtig gesehen kann das APR für die Lösung dieser rein haftungsrechtlichen Frage im Zivilrecht keine Rolle spielen: Ein etwaiger „Anspruch auf Zugang zum Arzt“ ist noch lange nicht gleichbedeutend mit der Frage, ob ein Dritter für die Kosten dieses (von der Krankenversicherung abgesicherten) „Anspruchs“ einzutreten hat oder nicht.
2) Meines Erachtens sollte man den Ausgangspunkt der Prüfung hinterfragen: Wenn klar ist, dass keine Verletzung an Rechtsgütern des § 823 Abs. 1 BGB erfolgt ist, sondern allein die Ersatzfähigkeit von reinen Vermögensschäden in Frage steht, wird man mit § 823 Abs. 1 in der Tat wenig Erfolg haben. Da läge der Rekurs auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Schutzgesetz wohl nahe (StVO ggf.). Für die Frage der Ersatzfähigkeit bzw. Kausalität von ärztlichen Untersuchungsaufwendungen könnte zudem eine parallele Überlegung fruchtbar sein: Besteht nicht möglichweise ein Pflicht zur Untersuchung von zumindest adäquat-kausal-möglichen Verletzungen im Halswirbelsäulen-Bereich, um einer Schadensminderungspflicht nachzukommen? Die Schadensminderungspflicht hat ihren Ursprung ja in letzter Konsequenz in dem allgemeinem Prinzip von Treu und Glaube, und dort gelten auch schuldlos erfolglos gebliebene Aufwendungen als ersatzfähige adäquat-kausale Schäden. Hierbei besteht nach BGH-Rspr. ja grds. auch eine Schadensminderungspflicht in Form der Pflicht zur Inanspruchnahme von ärztlicher Behandlung. Man könnte hier ansetzen und möglicherweise hieraus einen adäquat-kausalen Vermögensschaden herleiten, der dann natürlich nur in Verbindung mit einem Schutzgesetz über § 823 Abs. 2 BGB ersatzfähig würde. Dies aber nur als Anregung für die weitere Beschäftigung.