§ 240 StGB Nötigung mal anders: Aufruf zu einer Internetdemonstration
OLG Frankfurt v. 22.05.2006 Az. 1 Ss 319/05 = MMR 2006, 547-552
Gerade bin ich auf ein äußerst interessantes (wenngleich auch ältereres) Urteil des OLG Frankfurt gestoßen und muss sagen, dass sich ein solcher Aufhänger äußerst gut für eine Examensklausur oder die mündliche Prüfung eignet.
Sachverhalt
Der Angeklagte rief erstmalig per Flugblatt bzw. Internet zu einer so genannten Internetdemonstration gegen die A auf. Es war beabsichtigt, das Internetgeschäft der A zu behindern, indem das Vertrauen der Kunden in dieses neue Medium und das Image der A beeinträchtigt werden sollte.
Im Aufruf heißt es konkret:„Man darf gespannt sein, wie die A auf die Online-Demo reagiert. Der Konzern verfügt über enorme Rechenkapazitäten für seine Internetpräsenz. Sollte es trotzdem gelingen, die Homepage wie geplant zu blockieren, würde dies sicherlich nicht das Vertrauen der KundenInnen fördern. Damit computerunkundige DemonstrantInnen aber auch per Mausklick teilnehmen können, wird noch rechtzeitig vor der Internet-Demo eine Protest-Software veröffentlicht, die massenhafte Zugriffe auf die Webseite der A von nur einem PC aus erlaubt“.
Leitsatz
Der Aufruf zu einer Internetdemonstration erfüllt weder das Tatbestandsmerkmal der „Gewalt“ noch das der „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ im Sinne von § 240 StGB.
Der Gewaltbegriff
Ausgangspunkt für die Frage, ob im vorliegenden Fall „Gewalt“ i.S.d. § 240 StGB anzunehmen ist, ist das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot.
Dazu hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, der Begriff der Gewalt, der im Sprachgebrauch mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet werde, müsse hier im Zusammenhang des Normgefüges verstanden werden. Der Gesetzgeber habe in § 240 StGB nicht jede Zwangseinwirkung auf den Willen Dritter unter Strafe stellen wollen.
Eine Ausweitung der Mittel im Wege der Interpretation, etwa auf List oder Suggestion, scheide nach einhelliger Auffassung in Judikatur und Literatur aus. Das gelte selbst dann, wenn diese Mittel eine ähnliche Wirkung auf das Nötigungsopfer hätten wie die beiden im Gesetz pönalisierten. Da die Ausübung von Zwang auf den Willen Dritter bereits im Begriff der Nötigung enthalten sei und die Begrenzung bestimmter Nötigungsmittel in § 240 Abs. 1 StGB die Funktion habe, innerhalb der Gesamtheit denkbarer Nötigungen die strafwürdigen einzugrenzen, könne die Gewalt nicht mit dem Zwang zusammenfallen, sondern müsse über diesen hinaus gehen.
Deswegen habe sich mit dem Mittel der Gewalt im Unterschied zur Drohung von Anfang an die Vorstellung einer körperlichen Kraftentfaltung auf Seiten des Täters verbunden. Zwangseinwirkungen, die nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig-seelischem Einfluss beruhen, erfüllten unter Umständen die Tatbestandsalternative der Drohung, nicht jedoch der Gewaltanwendung.
Ausgehend von diesen Grundsätzen fehlt es vorliegend bereits an der erforderlichen Kraftentfaltung. Zwar ist im Gegensatz zu dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall ein aktives Verhalten, das Betätigen der Maus, gegeben. Allerdings kann nicht jede aktive Handlung die Voraussetzungen der Gewalt erfüllen. Dem Merkmal würde jegliche Unterscheidungskraft genommen, wenn es mit dem Handlungsbegriff der allgemeinen Verbrechenslehre zusammen fiele.Die Körperkraft muss vielmehr darauf abzielen, beim Opfer eine körperliche Wirkung auszulösen, mithin auf dessen Körper gerichtet sein.
Dies verkennte die erste Instanz, wenn sie darauf hinweist, dass das Maß der Kraftentfaltung etwa dem Auslösen des Abzugs an einer Waffe entspreche, wobei in beiden Fällen technische Reaktionen hervorgerufen würden Es fehlt vorliegend an einer technisch erheblich verstärkten Kraftentfaltung. Die bloße Muskelinervation genügt nicht, wenn sie auch notwendige Voraussetzung für den Krafteinsatz ist.
Die Wirkung des Tastendrucks beschränkt sich vorliegend auf den Bereich des Internets. Sie ist gerade nicht gegen Körper der User gerichtet.
Weiterhin ist auch die erforderliche Zwangswirkung beim Opfer, die nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur psychisch vermittelt, sondern physischer Natur sein muss, nicht gegeben.
Drohung
Die Drohung bezeichnet das Inaussichtstellen eines Übels, dessen Verwirklichung davon abhängen soll, dass der Bedrohte nicht nach dem Willen des Täters reagiert. Das Übel muss als vom Willen des Drohenden abhängig dargestellt werden.
Hier hat der Angeklagte die Durchführung der Internetblockade nicht etwa davon abhängig gemacht, dass die A ihre Mitwirkung an Abschiebungen einstellt. Der Aufruf war vielmehr nicht mit Bedingungen versehen.
Es kann aberin Ausnahmefällen in der Verwirklichung des Übels die Ankündigung eines weitergehenden Übels enthalten sein. Dies war hier aber nicht der Fall, da die Aktion zeitlich begrenzt wurde und somit für die A klar war, dass weitergehende Aktionen nicht stattfinden werden.
Sonstiges
Auch eine Strafbarkeit wegen Aufforderung zu dem Tatbestand der Datenveränderung (§ 111 StGB i.V.m. § 303 a StGB) wurde hier verneint, wobei ich mangels examensrelevanz auf eine detaillierte Subsumtion verzichten möchte.
Zudem wurde noch diskutiert, ob das Verhalten des Angeklagten den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 116, 118 OWiG erfüllt, was ich ebenso mangels examensrelevanz nicht weitergehend erörtern möchte.
Examensrelevanz
Die historische Entwicklung des Gewaltbegriffs lässt sich in jedem Strafrechtslehrbuch nachlesen und sollte für das Examen beherrscht werden. Sofern dann eine Sonderkonstellation wie diese hier auftaucht, muss man sich auf die vom BVerfG gesteckten Rahmenbedingungen besinnen und durch ausgiebige Argumentation zu einem Ergebnis kommen.
Im vorliegenden Fall hätte man mit der Argumentation freilich noch weiter gehen können, indem man sich auf die Rechtsprechung zum Thema „Gewalt gegen Sachen“ beruft. Zudem hätte man zwischen einer Nötigung der Seitenbetreiber und einer Nötigung der Internetuser differenzieren können. Im Ergebnis sollte man aber so aufgestellt sein, dass man hier eine Strafbarkeit verneint, da ansonsten der Gewaltbegriff entgegen Art 103 Abs. 2 GG überdehnt würde.
Ein interessantes Problem versteckte sich in dem Fall zudem in öffentlich-rechtlicher Hinsicht. Die Aktion wurde nämlich auch beim Ordnungsamt der Stadt zum gewählten Datum angemeldet. Die Stadt erklärte, eine Anmeldung einer Online-Demo sei nicht vorgesehen. Hier stellen sich dann wiederum Fragen aus dem Versammlungs- und Ordnungsrecht.
Ist die „A“ zufällig die Lufthansa?
Auszug aus dem Urteil:
„Politischer Hintergrund war, dass u.a. der Angeklagte die A bewegen wollte, vom so genannten Abschiebegeschäft Abstand zu nehmen, d.h. nicht weiter an der Beförderung auf dem Luftweg von abzuschiebenden Personen mitzuwirken und daran zu verdienen. Gedanklicher Ansatz für diese neue Protestform war die Tatsache, dass die A in der Vergangenheit begonnen hatte, zunehmend ihre geschäftlichen Aktivitäten über das Internet abzuwickeln, insbesondere den Kunden online Flugbuchungen zu ermöglichen. Es war daher beabsichtigt, die A auf diesem Geschäftsfeld zu treffen, indem das Vertrauen der Kunden in dieses neue Medium und das Image der A beeinträchtigt werden sollte.“
–> Lufthansa kann also gut sein… 2006 ist nicht ganz die Zeit, wo ich täglich Zeitung gelesen habe 🙂
Hab mal Tante Google bemüht, war wohl wirklich die Lufthansa: https://www.libertad.de/inhalt/projekte/depclass/verfahren/index.shtml
Mir klingelte bei dem Sachverhalt nur irgendwie was (um die Zeit rum hat ich Internetstrafrecht, kann sein dass es da aufkam), deswegen die Nachfrage.
Thx! Das macht das ganze noch plastischer…