Wir freuen uns sehr, einen weiteren Gastbeitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu dürfen. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Projekts Juraexamen.info.
Das BVerwG (8 C 9.21 – Urteil vom 06. April 2022) urteilte grundrechtfreundlich: Eine Gemeinde darf die Bewilligung einer finanziellen Zuwendung, mit der umweltpolitische Zielsetzungen verfolgt werden, nicht davon abhängig machen, dass die Antragsteller eine Erklärung zur Distanzierung von der Scientology-Organisation abgeben. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Erklärungen zur Weltanschauung einzufordern, sei keine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft im Sinne des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, so dass es bereits an einer Zuständigkeit der Beklagten fehle. Werde eine solche Erklärung verlangt und an deren Verweigerung der Ausschluss von der Förderung geknüpft, greife dies gezielt in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein. Der Eingriff sei schon mangels einer gesetzlichen Grundlage verfassungswidrig. Schließlich verstoße die Vorgehensweise der Beklagten gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Sie stelle eine unzulässige Differenzierung dar, weil sie den Kreis der Förderberechtigten nicht sachgerecht abgrenze, sondern nach Kriterien, die mit dem Förderzweck in keinem Zusammenhang stehen.
Mit dem Ergebnis mag man leben können und das ist vielleicht auch richtig. Die Ausführungen zur Religion- und Weltanschauungsfreiheit lassen aufhorchen. Es wirft die ganz grundlegende Frage auf: Was ist eine Religion? Was ist eine Weltanschauung? Das BAG hat bereits vor vielen Jahren verneint, dass Scientology eine Religion ist (BAG, Beschl. v. 22.3.1995 – 5 AZB 21/94, NJW 1996, 143; Thüsing, ZevKR 2000, 592 – auch rechtsvergleichend). Das BVerwG hat schon in der Vergangenheit tendenziell großzügiger argumentiert: (BVerwG, Urt. v. 14.11.1980 – 8 C 12/79, NJW 1981, 1460; BVerwG, Beschl. v. 16.2.1995 – 1 B 205/93, NVwZ 1995, 473; OVG Hamburg, Beschl. v. 24.8.1994 – Bs III 326/93, NVwZ 1995, 498). Für die Religion gibt das Grundgesetz keine Legaldefinition. Das ist verständlich, eignet sich doch der Typus der Religion kaum für eine subsumtionsfähige Definition und wird man doch in den meisten Fällen intuitiv wissen, ob eine bestimmte Überzeugung und Weltsicht eine Religion ist oder nicht. In Bezug auf die Scientology Church versagt diese Intuition: Ob es sich hier um eine Religion handelt, ist fraglich. Deutsche und englische Gerichte verneinen, französische und US-amerikanische Gerichte bejahen dies (Regina v. Registrar General, Ex parte Segerdal (1970) 2 QB 697; BVerwG, Urt. v. 15.12.2005 – 7 C 20/04, NJW 2006, 1303; Hernandez v. Commissioner, 490 U.S. 680, 109 S.C. 2136 (1989); Lyon, 28.7.1997, D. 1997, IR, 197?f.).
Das BVerfG hat eine solche Definition ebenfalls nicht formuliert. Einiges ist heute vielleicht überholt. Das BVerfG stellte schon vor einiger Zeit fest, das Grundgesetz habe „nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf der Basis gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat“ (BVerfG, Beschl. v. 8.11.1960 – 1 BvR 59/56, NJW 1961, 211). Diese stark auf die christlich-abendländische Geschichte bezogene Beschreibung der Religionsausübungsfreiheit findet Entsprechungen in vereinzelten Äußerungen des älteren Schrifttums, die Religionsfreiheit wird allgemein als Schutz allein des christlichen Bekenntnisses verstanden. Das BVerfG hat sich jedoch schon 1975 von dem oben zitierten Diktum erkennbar distanziert (BVerfGE, Beschl. v. 17.12.1975 – 1 BvR 63/68, NJW 1976, 947) und auch im Schrifttum wird der ausschließliche Schutz des Christentums und christlicher Religionsgesellschaften nicht mehr vertreten. Allgemein anerkannt ist, dass das Grundgesetz keine unterschiedliche Wertigkeit der Religionen kennt; für den neutralen Staat und den Schutz der Religion ist es nicht entscheidend, was für eine Religion eine Gemeinschaft verkündet, sondern nur, dass sie eine verkündet. Dies schließt indes nicht aus, den Religionsbegriff vor dem Hintergrund der christlichen Gesellschaft zu sehen, in der die Idee der Religionsfreiheit entstand. Die ganz hL – in der heutigen Rspr. findet sich nichts Gegenteiliges – betont demgegenüber, dass der Religionsbegriff des Grundgesetzes nicht aus einem christlichen Blickwinkel bestimmt werden dürfe und verlangt eine Interpretation dieser verfassungsrechtlichen Begriffe nach allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten. Dementsprechend dürfe sich das Verfassungsrecht bei der Begriffsbestimmung auch nicht an den Aussagen einzelner Theologen über Wesen und Entstehung von Religion orientieren.
Vielleicht lassen sich aber doch Indizien einer Religion festmachen, die heute in ihrer Gesamtschau dann doch durch typologische Betrachtung eine Gemeinschaft Religion oder Nicht-Religion sein lassen (s. MüKoBGB/Thüsing, 9. Aufl. 2021, AGG § 1 Rn. 28-32):
- Religion als umfassende Deutung menschlicher Existenz: Religion beantwortet nicht irgendwelche Fragen, die das Leben so bringen mag, sondern gibt Antwort auf das, was den Menschen unbedingt angeht, das „Wo komm ich her?“, das „Was darf ich hoffen?“, und das „Was soll ich tun?“. In zweierlei Hinsicht mag diese Aussage präzisiert werden. Erstens: Da auch die Philosophie sich diesen Essentialia menschlicher Existenz widmet, Philosophie aber nicht notwendig religiös ist, kann nicht jedes gedankliche Konzept, das auf diese Fragen Antwort gibt, Religion sein. Dieses Kriterium ist also notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung. Zweitens: Die Intensität oder die Art und Weise, in der eine Religion diese Fragen beantwortet und Aussagen versucht zu treffen, kann nicht entscheidend sein. Eine Überzeugung ist nicht umso eher Religion, je mehr Dogmen sie aufstellt und je mehr Verhaltensregeln sie formuliert. Was aber erforderlich ist, ist mehr als ein bloßes „Wir wissen es nicht“ als Erwiderung auf diese Fragen, denn dies wäre keine Antwort auf die Fragen, sondern nichts anderes als Agnostizismus, und Agnostizismus ist keine Religion.
- Religion als Bekenntnis: Ein zweiter Punkt hängt eng mit dem Gesagten zusammen, ändert aber ein wenig den Blickwinkel. Art. 4 GG nennt Religionsfreiheit in den ersten beiden Absätzen und Gewissensfreiheit im dritten Absatz, die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte erklärte die Freiheit der Meinungen „même religieuses“. In der Tat, Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit sind jeweils eigenständige Freiheiten und Phänomene, es besteht jedoch eine grundlegende Gemeinsamkeit: Beide stellen Gebote auf, denen sich der Einzelne unbedingt verpflichtet fühlt. Auch die Religion, die das Europarecht schützt, ist damit wohl das Bekenntnis zu einem spezifischen Glauben und den sich daraus ergebenden Handlungsgeboten; geschützt ist die Freiheit des Glaubens, und die Freiheit, diesen Glauben zu verwirklichen, beispielweise durch das Tragen eines Kopftuches in der Öffentlichkeit.
- Eine dritte Aussage zur Bestimmung von Religion ist negativ gefasst: Das Bekenntnis zu einem Gott ist weder notwendiges noch hinreichendes Kriterium dafür, dass eine bestimmte Weltsicht als religiös zu werten ist.
- Der Glaube an Gott ist keine notwendige Bedingung: Entscheidungen in den USA und in Großbritannien weisen zu Recht darauf hin, dass es Formen des Buddhismus gibt, die nicht den Glauben an ein höchstes Wesen beinhalten. Dies entspricht zumindest der Auffassung einiger Religionswissenschaftler. Die Entscheidung darüber, ob sie sich irren oder nicht, und ob die Kräfte oder Prinzipien, an die der Buddhist glaubt, auch als außerweltliche Wirklichkeit gedacht werden kann oder keine Gemeinsamkeit mit einer wie auch immer gearteten Vorstellung von Gott und dem Göttlichen hat, kann nicht bestimmend sein dafür, ob Buddhismus eine Religion iSd Europarechts ist oder nicht. Denn die RL knüpft ihren Schutz nicht an solcherlei theologische Feinheiten: Der Buddhismus ist eine Weltreligion und das Europarecht kann nicht dahingehend interpretiert werden, den Glauben von mehreren hundert Millionen Menschen aus seinem Schutzbereich auszuklammern. Dieser Glaube richtet sich an den Menschen als Ganzes, und hat eine Ethik, die auf seinem Verständnis von den letzten Dingen beruht. Darüber hinaus versteht er sich als Religion und ist weltweit als Religion anerkannt. Ein überzeugender Grund, warum er nicht in den Schutzbereich des Diskriminierungsverbots fallen sollte, ist nicht ersichtlich. Das hier dargelegte Verständnis entspricht auch dem Verständnis des österreichischen Gesetzgebers, der nicht auf einen Gottesglauben abstellt; Religion stehe „in enger Beziehung zur jeweiligen ‚Unverfügbarkeit‘, die als personale (Gott, Götter) und nichtpersonale (Weltgesetz, Erkenntnis, Wissen) Transzendenz vorgestellt wird“.
- Der Glaube an Gott ist keine hinreichende Bedingung: Auch die Kehrseite dieser Argumentation scheint zutreffend zu sein. Die alleinige Tatsache, dass eine Gemeinschaft die Existenz eines Gottes bejaht, macht sie noch nicht zur Religion. Glaubt sie an Gott, dann muss sie diesen Glauben zum zentralen Punkt ihrer Lehre machen, zum Fundament ihrer Ethik und zur Antwort auf die Fragen des Woher und Wohin. Die Anerkennung der Existenz eines Gottes, die keinen Bezug zum Leben eines Einzelnen hat, aus der keine Schlussfolgerungen gezogen werden, zu der ein Bekenntnis nicht erforderlich ist, und die letztlich in keiner Beziehung zur Antwort auf die Frage nach den letzten Dingen steht, kann vielleicht noch nicht einmal im Allgemeinen oder im anthropologischen Sprachgebrauch als Gottesglaube bezeichnet werden; jedenfalls vermag ein solcher Glaube keine Religion iSd Europarechts zu konstituieren, denn er steht nicht im Zusammenhang mit dem, was die RL schützen will: das Bekenntnis und dessen Verwirklichung.
Daneben steht die Weltanschauung: Religion und Weltanschauung liegen dicht beieinander und beides wird durch das Grundgesetz geschützt. Daher mag es müßig sein, beide Phänomene voneinander zu sondern. Dennoch: Klassisches Abgrenzungskriterium von Religion und Weltanschauung ist die Annahme, dass Religion sich auf Transzendenz bezieht, Weltanschauung dagegen ein rein diesseitig ausgerichtetes Phänomen ist. Liegen die Gründe für unser Geworfensein in diese Existenz in einer Wirklichkeit, die unserer wahrnehmbaren Welt vorgelagert ist, oder nicht? Diese Auffassung steht und fällt mit der Bestimmung eines nicht einfacheren Begriffes als des Religionsbegriffes, mit der Antwort auf die Frage, was Transzendenz ist. Hier hat gerade die Religionswissenschaft der letzten Jahrzehnte eine Aufweichung starrer Begriffe und Unterscheidungen bewirkt. Die Gedanken Emmanuel Lévinas und seine Idee von der Transzendenz in der Immanenz mögen hier nur beispielhaft angeführt werden. Daher wird heute verstärkt das rein subjektive Kriterium des Selbstverständnisses der jeweiligen Gemeinschaft als entscheidendes Abgrenzungsmerkmal angesehen. (MüKoBGB/Thüsing, 9. Aufl. 2021, AGG § 1 Rn. 34). Fest steht damit jedoch: Auch die Weltanschauung braucht eine umfassende Seinsdeutung. Weltanschauung ist nicht jede Weltsicht säkularer Art, sondern sie muss sich am gleichen umfassenden Anspruch wie die religiöse Überzeugung messen lassen, und sie muss auf die grundlegenden Fragen des Woher und Wohin menschlicher Existenz antworten. Sie muss Konsequenzen haben für das Verhalten des Menschen in dieser Welt. Wo eine Lehre lediglich Teilaspekte des Lebens beleuchtet, mag diese eine Lebensmaxime sein, nicht aber Weltanschauung. Weltanschauung ist das Analogon zur Religion, wenn auch mit säkularen Wurzeln. Deshalb wäre Scientology aus den gleichen Gründen, warum sie keine Religion ist, auch keine Weltanschauung. Die in eine entgegengesetzte Richtung weisende verwaltungsgerichtliche Rspr. vermag nicht zu überzeugen und behandelt die Frage der Eingruppierung von Scientology nur am Rande (VGH München, Beschl. v. 14.2.2003 – 5 CE 02.3212, NVwZ 2003, 998; VGH Mannheim, Urt. v. 12.12.2003 – 1 S 1972/00, NVwZ-RR 2004, 904; OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.3.2004 – 12 LA 410/03, NVwZ-RR 2004, 884).
Die Entscheidung ist also spannend. Wenn nicht nur die Pressemitteilung, sondern die Entscheidungsgründe veröffentlicht sind: Lesen!