In einem Urteil vom 20. Mai 2010 (3 StR 78/10) hatte der Bundesgerichtshof über den strafbefreienden Rücktritt von einem versuchten Totschlag zu entscheiden. Ein Fall, der auch so eins zu eins in einer Strafrecht Examensklausur gestellt werden könnte, Nachahmung im wirklichen Leben jedoch verboten. Der Volltext des BGH-Urteils eignet sich angesichts des nur punktuellen Aufgreifens des Schwerpunkts „Rücktritt vom Versuch“ nicht als Vorlage für eine saubere gutachterliche Prüfung im Rahmen einer Klausur. Im Folgenden nun ein Versuch :-), den Fall in einem sauberen Gutachten zu lösen.
Sachverhalt
Der nicht vorbestrafte Angeklagte (A) lebte seit Februar 2009 wieder im Haushalt seiner 74jährigen Mutter, dem späteren Tatopfer. Diese litt an einer schweren Lungenerkrankung und war darauf angewiesen, sich täglich für mehrere Stunden über einen Nasenschlauch ergänzend Sauerstoff zuzuführen. Zwischen dem A und seiner Mutter kam es alsbald vermehrt zu Streitigkeiten. In der Wahrnehmung des A, die möglicherweise durch seinen regelmäßigen Cannabis-Konsum beeinträchtigt war, beruhten die Auseinandersetzungen darauf, dass seine Mutter ihn ständig grundlos kritisierte und ihn als Versager darstellte. Infolge dieses vom A als kränkende Zurückweisung empfundenen Verhaltens, entwickelte sich bei ihm zunehmend ein Gefühl der Unzulänglichkeit und Verärgerung, aus dem heraus er drei Tage vor der Tat anlässlich einer erneuten Meinungsverschiedenheit mit seiner Mutter gegenüber seinem Schwager äußerte „die blöde Kuh wär´ sowieso besser tot“.
Am Tattag war er nach einer aus seiner Sicht missbilligenden Äußerung seiner Mutter über seine Freundin niedergeschlagen und zog sich in sein Zimmer zurück. Nach dem Konsum von Haschisch und Alkohol sprang er gegen 21 Uhr einem plötzlichen Entschluss folgend aus dem Fenster seines im ersten Stock gelegenen Zimmers, um sich das Leben zu nehmen. Er zog sich durch den Sturz jedoch lediglich leichte Verletzungen zu und wurde auf seine Hilferufe von seiner Mutter wieder in das Haus eingelassen, wo er sich auf deren Bett legte. Währendessen forderte seine Mutter telefonisch einen Notarzt für den A an. Nach Beendigung des Telefonats stürzte sich der A plötzlich in Wut auf seine Mutter, die er für seine Lage verantwortlich machte, riss ihr den Bademantel herunter, warf sie auf das Bett und hielt ihr mit den Worten „jetzt bist Du dran“, „Verreck´ doch endlich, Du Miststück“ Mund und Nase zu in der Absicht, sie zu töten. Die Geschädigte, die Todesangst hatte, stellte sich tot. Als sich die von dem Tatopfer zuvor alarmierten Rettungskräfte mit Signalton dem Tatort näherten, ließ der A von seiner Mutter ab, lief zur Wohnung der Nachbarn und rief um Hilfe, weil seine Mutter sterbe. Sodann ließ er die mittlerweile eingetroffenen Rettungskräfte in die Wohnung seiner Mutter ein. Das Tatopfer erlitt durch den Verschluss der Atemwege lebensbedrohliche Verletzungen und konnte nur mit Mühe gerettet werden.
Hat sich der A des versuchten Totschlags strafbar gemacht?
Lösung
A könnte sich wegen versuchten Totschlags gemäß §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er seiner Mutter Nase und Mund zuhielt.
Vorprüfung
a. Nichtvollendung der Tat (+), da der Tod der Mutter nicht verursacht wurde.
b. Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB.
1. Tatbestand
a. subjektiver Tatbestand (= Tatentschluss)
A müsste mit Tatentschluss gehandelt haben.
Tatentschluss bedeutet die Verwirklichung des gesamten subjektiven Unrechtstatbestandes des betreffenden Delikts. Da A seine Mutter töten wollte, hatte A Tatentschluss, §§ 212, 15 StGB.
b. Objektiver Tatbestand (= unmittelbares Ansetzen)
Im objektiven Tatbestand müsste der A nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt haben. (sog. Ansatzformel des § 22 StGB).
Da A (nach seiner Vorstellung von der Tat) bereits mit der Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals „töten“ begonnen hatte, hat er unmittelbar zur Tat angesetzt.
2. Rechtswidrigkeit (+)
A handelte rechtswidrig.
3. Schuld (+)
A handelte schuldhaft.
4. Persönliche Strafaufhebungsgrund: Rücktritt
A könnte jedoch, indem er die durch seine Mutter alamierten Rettungskräfte in das Haus hineinließ, gemäß § 24 Abs. 1 StGB strafbefreiend zurückgetreten sein.
a. Kein fehlgeschlagener Versuch
Es dürfte kein fehlgeschlagener Versuch vorliegen. Ein fehlgeschlagener Versucht liegt vor, wenn die Tat nach der Vorstellung des Täters nicht mehr vollendet werden kann.
Im vorliegenden Fall ist der Versuch nicht fehlgeschlagen, weil A zu dem Zeitpunkt, als der Krankenwagen kam, noch die Vorstellung hatte, seine Mutter töten zu können. Mithin war die Tat nach seiner Vorstellung noch vollendbar.
b. Beendeter oder unbeendeter Versuch
Zu prüfen wäre als nächstes, ob ein beendet oder unbeendeter Versuch vorliegt.
Unbeendet ist der Versuch, wenn der Täter noch nicht alles getan zu haben glaubt, was nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Verwirklichung notwendig ist.
Beendet ist der Versuch, wenn der Täter alles getan zu haben glaubt, was nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Vollendung notwendig oder möglicherweise ausreichend ist.
Nach dem Vorstellungsbild des A hatte er nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung alles Erforderliche getan, um den tatbestandsmäßigen Erfolg, nämlich den Tod seiner Mutter, herbeizuführen. Somit liegt hier ein beendeter Versuch vor.
c. Prüfung der Rücktrittsvoraussetzungen
Beim beendeten Versuch gelten die Rücktrittsvoraussetzungen des § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB und des § 24 Abs. 1 S. 2 StGB.
Aufbautip: Immer zuerst mit der Prüfung des § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB beginnen, wenn Voraussetzungen (-), dann § 24 Abs. 2 StGB prüfen
A könnte gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB strafbefreiend zurückgetreten sein.
aa. Nichtvollendung (+)
bb. Verhinderungskausalität
Hierfür ist erforderlich, dass das Handeln des A zumindest mitursächlich für die Nichtvollendung wurde.
Bedenken bestehen insoweit, als nicht A, sondern M die Rettungskräfte zu anderen Zwecken gerufen und damit die Vollendungsverhinderung initiiert hat. Ferner hat A die Rettungskräfte bei ihrem Eintreffen nicht bestmöglich über die zwischenzeitlich geänderte Sachlage sowie über den genauen Aufenthaltsort der M im Haus informiert. Welche Anforderungen an eine Vollendungsverhinderung i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB zu stellen sind, ist umstritten.
(1) Zum Teil wird verlangt, dass der Täter sich auch bei der Rücktrittsvariante des § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB stets bestmöglich um die Rettung des Opfers bemühen müsse. Dies folge aus einer systematischen Auslegung von § 24 Abs. 1 S. 2 StGB. Wenn hiernach schon bei einem untauglichen und damit ungefährlichen Versuch ein Rücktritt nur bei ernsthaften, also optimalen Rettungsbemühungen möglich sei, müsse dies erst recht bei einem tatsächlich gefährlichen beendeten Versuch gelten (vgl. Herzberg NStZ 1989, 49; Römer MDR 1989, 945). Mangels optimaler Rettungsbemühungen des A würde dieser Ansicht folgend ein Rücktritt i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB ausscheiden.
(2) Andere Teile der Lit. nehmen eine tatbestandsmäßige Vollendungsverhinderung bereits an, wenn der Täter den Nichteintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges in objektiv zurechenbarer Weise bewirkt habe. Ausreichend und erforderlich sei hierfür, dass er eine relevante Rettungschance für das gefährdete Rechtsgut begründet und diese Chance sich in der Nichtvollendung der Tat realisiert habe. Bediene der Täter sich zur Verhinderung der Tatvollendung der Hilfe Dritter, sei ihm deren Handeln nur objektiv zurechenbar, wenn er es täterschaftlich beherrscht oder zumindest anderweitig bewusst initiiert habe. Hingegen reiche es nicht aus, lediglich einen
Dritten bei der Realisierung eines bereits gefassten Rettungsentschlusses als Gehilfe zu unterstützen (vgl. Rudolphi NStZ 1989, 508, 514 m.w.N.). Nicht A, sondern M hat die Rettungskräfte alarmiert und deren Rettungsentschluss hervorgerufen. Auf diesen Entschluss hat A in der Folgezeit keinen weiteren Einfluss
genommen. Auch nach dieser Auffassung ist A folglich nicht strafbefreiend i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB zurückgetreten.
(3) Nach h.M. setzt § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB lediglich voraus, dass der Täter durch eine eigene Handlung eine neue Kausalkette in Gang setzt, welche für das Ausbleiben des Erfolges zumindest mitursächlich wird (vgl. BGHSt 48, 147, 149, BGH NStZ 99, 128) Es genüge, dass der Täter bewusst und gewollt eine neue Kausalkette in Gang setzt, die zumindest mitursächlich für die Nichtvollendung der Tat wird, also nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Nichtvollendung entfiele. Hierzu könne es ausreichen, dass er die zur Vollendungsverhinderung geeigneten Rettungsaktivitäten Dritter oder des Opfers selbst veranlasse (vgl. BGHSt 33, 295, 302; NStZ-RR 1997, 193). Eine optimale Rettungsleistung wird hier nicht gefordert.
Das schlichte Gewährenlassen des Opfers bei Maßnahmen zur Eigenrettung genügt hiernach den Anforderungen des § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB hingegen nicht (vgl. BGH NJW 1990, 3219).
A hat die Rettungskräfte weder über die zwischenzeitlich veränderte Sachlage informiert noch hat er ihnen den Weg zu seiner Mutter gewiesen. Damit scheidet auch auf Grundlage dieser Auffassung ein strafbefreiender Rücktritt i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB mangels Vollendungsverhinderung aus.
b. A könnte aber nach § 24 Abs. 1 S. 2 StGB strafbefreiend zurückgetreten sein. Hierfür müsste er sich freiwillig und ernsthaft um die Verhinderung der Vollendung bemüht haben.
aa. Nichtvollendung bei fehlender Verhinderungskausalität (+)
bb. Ernsthaftes Bemühen
Ein ernsthaftes Bemühen liegt nur vor, wenn der Täter alles tut, was aus seiner Sicht zur Verhinderung der Vollendung notwendig und geeignet ist. Er muss alle ihm bekannten und zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen und er muss die Mittel einsetzen, die nach seiner Überzeugung am sichersten verhindern. Der Täter darf dem Zufall keinen Raum geben. Hier ist also das optimale Rettungsbemühen erforderlich.
A hat die Rettungskräfte weder über die veränderte Sachlage seit ihrer Alarmierung noch über den genauen Aufenthaltsort der Mutter aufgeklärt. Dieser war für die Rettungskräfte nach dem Betreten des Hauses indessen ohne entsprechende Informationen nicht unmittelbar ersichtlich. Eine bestmögliche Rettung seiner Mutter ohne die Gefahr weiterer zeitlicher Verzögerungen wurde durch das schlichte Einlassen der Retter in die Wohnung folglich nicht sichergestellt. A hatte von den hierfür maßgeblichen Tatumständen auch Kenntnis.
Folglich hat er sich nicht ernsthaft i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 2 StGB um die Verhinderung
der Vollendung bemüht, so dass die Frage, ob der A hier freiwillig gehandelt hat, dahingestellt bleiben kann.
c. Zwischenergebnis: A ist mithin nicht strafbefreiend zurückgetreten.
Ergebnis: A hat sich wegen versuchten Totschlags gemäß §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
(A hat sich hier natürlich auch in Tateinheit einer gefährlichen Körperverletzung i.S.d. § 224 StGB strafbar gemacht. (klarstellende Idealkonkurrenz) Die Prüfung des § 224 StGB wurde hier jedoch außen vorgelassen, da es sich insoweit nicht um den Schwerpunkt dieser Entscheidung handelt.
Examensrelevanz
Eine meiner Meinung nach examensrelevante aktuelle BGH-Entscheidung aus dem Bereich Strafrecht, in der das Wissen aus dem allgemeinen Teil, insbesondere des Versuchs und des Rücktritts vom Versuchs zu einem großen Teil, in seinen verschiedenen Varianten abgeprüft wird. Die saubere, strukturierte Vorgehensweise im allgemeinen Teil des Strafrechts, wie hier in diesem Fall bei der Prüfung des Rücktritts vom Versuch sollte sitzen.
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