In der vergangenen Woche geisterten zwei interessante Problemkreise im Bereich des Reisevertragsrechts (BGH-Urteil X ZR 76/11 und die Schlussanträge des EuGH-Generalanwalts in der Rechtssache 19.04.2012 – C-22/11) durch die Medien. Schadens- und Aufwendungsersatzansprüche im Rahmen missglückter Urlaubsreisen sind regelmäßig Gegenstand schriftlicher und mündlicher Prüfungen.
Sachverhalt (verkürzt und abgewandelt)
Reisender R bucht für sich eine einwöchige Pauschalreise in die Türkei zum Preis von 390 Euro bei Reiseveranstalter V. In den AGB des Reiseveranstalters steht unter Ziffer 3:
V behält sich die kurzfristige Änderung der Flugzeiten und der Streckenführung vor, soweit dadurch der Gesamtzuschnitt der Reise nicht beeinträchtigt werde.
Der Hinflug läuft wie gewünscht ab und R verlebt eine schöne Woche. Ein Tag vor Rückreise wird der Rückflug aus „unvermeidlichen organisatorischen Gründen“, auf die V keinerlei Einfluss habe, von 16 Uhr auf 5 Uhr vorverlegt, sodass R bereits um 1 Uhr vom Hotel abgeholt werden müsste. In Wahrheit hatte V den Flug aus wirtschaftlichen Gründen bewusst umgebucht, um Kosten zu sparen. R ist nicht gewillt, zu dieser „unzumutbaren“ Uhrzeit die Rückreise anzutreten und organisiert sich einen alternativen Flug um 14 Uhr des Rückflugtages, den er dann auch antritt. Die Kosten für den Rückflug und sonstige Kosten trägt R selbst. V zahlt ihm lediglich einen Pauschalbetrag von 42 Euro, die zusätzlichen Rückflugkosten habe R jedoch selbst verursacht, wofür V nichts könne. R verlangt den vollständigen Ersatz seiner Kosten: 70 Euro für in Anspruch genommene Verpflegungsleistungen, 500 Euro für die Kosten des alternativen Rückflugs und 400 Euro wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit.
Zu Recht?
Abwandlung:
Der Rückflug wird aufgrund eines Streiks des Flughafenpersonals um einige Stunden nach hinten verlegt. R, der sich rechtzeitig auf dem Flugsteig eingefunden hatte, erreicht mit dem außerplanmäßigen Flug sein Ziel. Dennoch verlangt R von Fluggesellschaft F eine pauschale Ausgleichszahlung in Höhe von 400 Euro. Die F beruft sich darauf, dass sie sich den Streik auf dem Flughafen nicht zurechnen lassen müsse.
Hat R einen Anspruch auf Zahlung von 400 Euro gemäß Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 lit. b der Fluggastverordnung (VO (EG) 261/2004)? (Anm. d. Verf.: Bei F handelt es sich um ein „Luftfahrtunternehmen“ gemäß der VO.)
Betroffener aufgrund der Vorverlegung zur Selbsthilfe berechtigt
Anspruchsgrundlage ist der allgemeine Schadensersatzanspruch im Reiserecht gemäß § 651f BGB. Zunächst ließe sich überlegen, ob die Vorverlagerung um einige Stunden möglicherweise von Ziff. 3 in den AGB gedeckt ist. Hiernach wäre insbesondere das Merkmal „Beeinträchtigung des Gesamtzuschnitts der Reise“ auszulegen und an dem vorliegenden Fall zu messen. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass Ziff. 3 die Annahme eines Reisemangels bei einer Vorverlagerung des Rückflugs nicht ausschließt. Argumentativ könnte darauf abgestellt werden, dass eine solch erhebliche Abweichung (5 Uhr statt 16 Uhr; 1:25 Uhr Abholung am Hotel; mehrstündige Nachtfahrt bis zum Flughafen etc.) den Gesamtzuschnitt der Reise deutlich verändert. Der R verliert deutlich an Erholungs- und Vorbereitungszeit und tritt die Rückreise nahezu in einer „Nacht und Nebel-Aktion“ an.
Fraglich könnte aber ferner sein, ob R sich „einfach so“ um einen alternativen Rückflug kümmern darf, wenn er die Rückflugkosten ersetzt verlangen will. Nach der Pressemitteilung kann dies im vorliegenden Fall angenommen werden. Die Voraussetzungen der Abhilfe durch den Reisenden selbst sind in § 651c BGB niedergelegt. Der BGH in der Pressemitteilung:
[Der Reisemangel] habe die Reisenden aber grundsätzlich auch zur Selbstabhilfe und zur Erstattung der mit dem selbst organisierten Rückflug entstandenen Kosten berechtigt, wenn sie zuvor dem Reiseveranstalter eine Abhilfefrist gesetzt hatten oder eine solche Fristsetzung entbehrlich war. Letzteres könne sich bereits aus den Umständen ergeben, etwa wenn der Reiseveranstalter den Reisemangel bewusst verursacht habe und ihn als unvermeidlich darstelle, so der BGH.
Die Entbehrlichkeit der Fristsetzung nach § 651c Abs. 3 BGB kann sich auch daraus ergeben, dass der Reiseveranstalter mangels eines örtlichen Beauftragten schwer erreichbar ist und dessen Abhilfe zu spät käme (Palandt/Sprau, § 651c, Rz.5, der auch auf die Ähnlichkeit zu § 323 Abs. 2 Nr. 1 u 3 BGB verweist).
Kein Anspruch auf Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit
Einen weiteren Anspruch auf Entschädigung verneint der BGH, da der Reisemangel durch den alternativen Rückflug gerade nicht mehr bestand.
Nach Bejahung eines Reisemangels kommt es vielmehr darauf an, welchen Anteil der Mangel in Relation zur gesamten Reiseleistung hatte und wie gravierend sich der Mangel für den Reisenden ausgewirkt hat. Da die Reisenden dem Reisemangel aber im Wesentlichen selbst abgeholfen haben, ist danach keine erhebliche Beeinträchtigung mehr zu erkennen, die zur Kündigung oder einer Entschädigung für nutzlos aufgewendete Urlaubszeit berechtigen würde.
Eine Beeinträchtigung des insoweit selbstständigen Reiseteils „Rückreise“, auf den es bei der Betrachtung des Mangels ankommt (Palandt/Sprau, § 651f Rz. 6), liegt damit nicht mehr vor, sodass auch keine Entschädigung in Betracht käme.
Streikbedingte Umorganisation des Flugbetriebs am Flughafen ist Fluggesellschaft zurechenbar
Ausgangspunkt war eine Anrufung des EuGH durch Finnland zu der Frage der Auslegung des Begriffs der „Nichtbeförderung“ nach Art. 2 lit. j der Fluggastverordnung. In der Norm, die Ansatzpunkt für den o.g. Entschädigungsanspruch gegen das Luftfahrtunternehmen (NICHT zu verwechseln mit § 651f BGB gegen den Reiseveranstalter!) ist, heißt es:
„Nichtbeförderung“ die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z.B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen;
Der Generalanwalt Yves Bot fordert hier eine weite Auslegung des Begriffs und stellte damit (u.a.) die Schutzwürdigkeit der Fluggäste heraus. Bei der Frage der Rechtfertigung einer Nichtbeförderung und damit einer Entlastung der Fluggesellschaft macht Bot deutlich, dass nur Gründe, die in dem Fluggast selbst liegen, eine Haftung ausschließen können:
Die Nichtbeförderung zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen Fluggast und nicht den Flug selbst betrifft. Zwar kann es durchaus vorkommen, dass bei ein und demselben Flug mehreren Fluggästen die Beförderung verweigert wird. Im Gegensatz zur Annullierung und der Verspätung betrifft die Nichtbeförderung aber nicht alle Fluggäste gleichermaßen. Es handelt sich um eine individuelle Maßnahme, die vom Luftfahrtunernehmen willkürlich gegenüber einem Fluggast getroffen wird, obwohl dieser alle Bedingungen für die Beförderung erfüllt. Diese individuelle Maßnahme ist nur dann nicht willkürlich, wenn den Fluggast selbst ein Verschulden trifft, z. B., wenn er ungültige Ausweispapiere vorlegt oder etwa wenn er durch sein Verhalten die Sicherheit des Flugs und/oder der anderen Fluggäste gefährdet, z. B., wenn er betrunken ist oder gewalttätig wird. Meines Erachtens findet in solchen Fällen Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 deswegen keine Anwendung und hat der Fluggast deswegen weder Anspruch auf Ausgleichs- noch auf Unterstützungsleistungen, weil die Entscheidung, ihn nicht zu befördern, ihm zuzurechnen ist. Hingegen kann die Nichtbeförderung aus Gründen, die überhaupt nichts mit dem betreffenden Fluggast zu tun haben, in Anbetracht des Ziels dieser Verordnung, nämlich ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, meines Erachtens nicht dazu führen, dass dieser ohne jeden Schutz dasteht.
Ferner stellt der Generalanwalt auf die „Beherrschbarkeit“ der außergewöhnlichen Umstände ab.
Wenn die Annullierung oder die Verspätung des Flugs auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen ist, ist das Luftfahrtunternehmen nicht zur Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 verpflichtet, soweit es die Geschehnisse nicht beherrschen kann. Da das Luftfahrtunternehmen für das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die die Fluggäste zu erdulden haben, nicht verantwortlich ist, gibt es keinen Grund für eine Ausgleichszahlung, die abschreckend wirken soll. Dies ist aber nicht der Fall, wenn dem Fluggast, wie im vorliegenden Fall, die Beförderung nach einer vom Luftfahrtunternehmen wegen außergewöhnlicher Umstände beschlossenen Umorganisation der Flüge verweigert worden ist. Das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die einer oder mehrere völlig willkürlich ausgewählte Fluggäste zu erdulden haben, sind allein auf diese Entscheidung des Luftfahrtunternehmens zurückzuführen. Aus diesem Grund, nämlich, weil der erlittene Schaden dem Luftfahrtunternehmen zurechenbar ist, bleibt die Ausgleichszahlung geschuldet, um dieses davon abzuhalten, auf eine solche Praxis zurückzugreifen, anstatt gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 zu versuchen, Fluggäste zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen.
Für die vollständige Begründungen, siehe hier und hier.
Fazit
Beide Fälle eignen sich gut, ohne enormes Hintergrundwissen, Gegenstand einer Prüfung zu sein. Die BGH-Entscheidung bildet ein weiteres Mosaiksteinchen hinsichtlich eines Ersatzanspruchs. In der Originalentscheidung ging es übrigens noch zusätzlich um eine Abtretung von Gewährleistungsansprüchen an einen Mitreisenden (siehe Beck). Überdies war nicht klar, ob im vorliegenden Fall tatsächlich die Fristsetzung zur Abhilfe entbehrlich gewesen war, sodass an die Vorinstanz zurückverwiesen wurde.
Die FluggastVO kann durchaus auch Gegenstand einer Examensklausur sein. Hier sollte mit den Umständen des Einzelfalls und mit der Zwecksetzung des Ersatzanspruchs argumentiert werden. Die teilweise sehr komplexen Ausführungen des Generalanwalts könnten da zumindest als Ideengeber fungieren.