Examensrelevante Entscheidung im Öffentlichen Recht:
Eine Besprechung von BVerfG, Beschl. vom 26.06.2014, 1 BvR 2135/2009 = NVwZ 2014, 1453f.
I. Einleitung
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt Anlass, sich mit dem immer wiederkehrenden Thema des Versammlungsrechts zu befassen. Neben den grundrechtlichen Bezügen, sollte man dabei die einfachgesetzliche Ausprägung des Versammlungsrechts nicht aus den Augen verlieren. Zumeist setzt jedoch auch eine Klausur, die schwerpunktmäßig ordnungsrechtlich (= einfachgesetzlich) zu lösen ist, eine Prüfung von Art. 8 GG voraus. Tendenziell reicht der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit sehr weit. Die Anforderungen an die Einschränkungen des Versammlungsrechts liegen ebenfalls hoch. Beides hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss erneut betont.
II. Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin nahm am 1. Mai 2008 an einer Versammlung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in München mit dem Thema „01. Mai. Tag der Arbeit“ teil. Angemeldet waren eine stationäre Auftaktkundgebung, ein Versammlungszug und eine stationäre Abschlusskundgebung. Für die Versammlung hatte das Kreisverwaltungsreferat München als zuständige Versammlungsbehörde mit Bescheid vom 28. April 2008 unter dem Unterpunkt „Kundgebungsmittel / Versammlungshilfsmittel“ unter anderem die Auflage erlassen, dass Lautsprecher und Megaphone nur für Ansprachen und Darbietungen, die im Zusammenhang mit dem Versammlungsthema stehen, sowie für Ordnungsdurchsagen verwendet werden dürfen. Während des Versammlungszuges benutzte die Beschwerdeführerin an zwei Orten einen Lautsprecher, welcher auf einem Handwagen mitgeführt wurde, für folgende Durchsagen: „Bullen raus aus der Versammlung!“ und „Zivile Bullen raus aus der Versammlung – und zwar sofort!“. Zu einer „Störung“ oder „Unruhe“ kam es innerhalb der Versammlung nicht. Der Ausspruch konnte von den Versammlungsteilnehmern allerdings gut wahrgenommen werden.
Gegen die Beschwerdeführerin wurde ein Bußgeldverfahren eingeleitet. Das Amtsgericht verurteilte die Beschwerdeführerin mit angegriffenem Urteil wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (Nichtbeachtung beschränkender Auflagen) gemäß § 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 15 Abs. 1 VersG zu einer Geldbuße von 250 Euro.
III. Leitsätze/Inhalt der Entscheidung
- Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (Art 8 Abs 1 GG) umfasst grundsätzlich auch die Verwendung von Lautsprechern als Hilfsmittel. Wer an einer von Art 8 GG geschützten Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch dazu berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen.
- Die Bußgeldvorschriften des § 29 Abs 2, Abs 1 Nr 3 VersammlG sind stets im Licht der grundlegenden Bedeutung von Art 8 Abs 1 GG auszulegen; Maßnahmen nach dieser Vorschrift müssen sich auf das beschränken, was zum Schutze gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist.
Dazu bezieht das Gericht zunächst zu der Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 GG unmissverständlich Stellung:
Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ist eröffnet. Die Beschwerdeführerin war unstreitig Teilnehmerin einer auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Kundgebung und damit einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. Vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit grundsätzlich umfasst war damit auch die Verwendung von Lautsprechern oder Megaphonen als Hilfsmittel. Die als bußgeldbewehrt erachteten Lautsprecherdurchsagen standen auch inhaltlich in hinreichendem Zusammenhang mit der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Durchführung der Versammlung. Mögen sie auch keinen spezifischen Bezug zum Versammlungsthema aufgewiesen haben und nicht auf die Einhaltung der Ordnung gerichtet gewesen sein, so gaben sie jedenfalls das versammlungsbezogene Anliegen kund, dass sich in dem auf den Willensbildungsprozess gerichteten Aufzug selbst nur solche Personen befinden sollen, die am Willensbildungsprozess auch teilnehmen, nicht aber auch am Meinungsbildungsprozess unbeteiligte Polizisten, die als solche nicht erkennbar sind. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die körperliche Sichtbarmachung von gemeinsamen Überzeugungen. Wer an einer solchen Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch dazu berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen. Insoweit ist die entsprechende Lautsprecheraussage nicht – wie das Amtsgericht annimmt – dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit entzogen.
Danach setzt sich das Gericht mit den konkreten Äußerungen auseinander. Es wägt die konkrete Maßnahme mit den konkreten Konsequenzen ab.
Indem die amtsgerichtliche Entscheidung die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einer Geldbuße in der Sache allein darauf stützte, dass sie die Lautsprecheranlage zu einem anderen Zweck als zu einer im engen Sinne themenbezogenen Durchsage oder Ordnungsmaßnahme nutzte, verkennt sie den Schutzgehalt des Art. 8 Abs. 1 GG, der – wie dargelegt – jedenfalls grundsätzlich auch Äußerungen zu anderen versammlungsbezogenen Fragen erlaubt. Insoweit konnte sich das Gericht auch nicht uneingeschränkt auf die entsprechende Auflage berufen. Vielmehr durfte es die Auflage nur dann als verfassungsgemäß ansehen, wenn es sie einer Auslegung für zugänglich hielt, nach der andere als strikt themenbezogene Äußerungen mit Versammlungsbezug von ihr nicht ausgeschlossen sind. An einer solchen Berücksichtigung des Schutzgehaltes der Versammlungsfreiheit fehlt es indes. Vielmehr belegt die angegriffene Entscheidung die in Frage stehenden versammlungsbezogenen Äußerungen unabhängig von jeder Störung mit einer Geldbuße. Für eine Störung durch den Gebrauch der Lautsprecheranlage im konkreten Fall ist weder etwas dargetan noch ist sie sonst ersichtlich. Die Lautsprecherdurchsagen der Beschwerdeführerin waren erkennbar nicht geeignet, mehr als allenfalls unerhebliche Unruhe innerhalb der Versammlung zu stiften. Der bloße Aufruf „Zivile Bullen raus aus der Versammlung – und zwar sofort!“ mag bei lebensnaher Betrachtung kurzfristige Irritationen von Versammlungsteilnehmern hervorrufen, war aber ersichtlich nicht zur Störung des ordnungsgemäßen Verlaufs der Versammlung geeignet. Insbesondere wurden Zivilpolizisten nicht konkret und in denunzierender Weise benannt und so etwa in die Gefahr gewalttätiger Übergriffe aus der Versammlung gebracht. Auch eine mögliche Beeinträchtigung der Gesundheit von Dritten durch übermäßigen Lärm erscheint durch die bloß kurzzeitige zweimalige Benutzung des Lautsprechers ausgeschlossen. Insgesamt ist damit nicht erkennbar, dass Gefährdungen vorlagen, die die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld rechtfertigten
IV. Anmerkung
Die Entscheidung des BVerfG bezieht zu wichtigen Elementen des Versammlungsrechts Stellung. Neben den Lautsprechern als spezifisches Hilfsmittel stärkt die Entscheidung die Verwendung anderer, „versammlungstechnischer“ Hilfsmittel. Die Effektivität einer Versammlung darf insbesondere bei wachsender Teilnehmerzahl und Größe nicht durch die Einschränkung von technischen Hilfsmitteln unterlaufen werden. Insofern ist die Entscheidung klar und begrüßenswert:
Technische Hilfsmittel sind als Versammlungshilfsmittel unerlässlich. Interessant wird es vor allem dann werden, wenn sich zukünftige Versammlungsleiter moderner Kommunikationsmittel (wie z. B. einer Versammlungs-APP) bedienen, die den Schutzbereich weiterer Grundrechte berühren könnte, wenn sie beschränkt werden. Nach den dargelegten Grundsätzen sollten auch weitere Hilfsmittel großzügig zu gewähren sein.
In dem zweiten Teil der Entscheidung steigt das Bundesverfassungsgericht weit in die einfach gesetzliche Auslegung des Versammlungsrechts ein. Zwar stellt es anfangs klar (hier nicht abgedruckt), dass es nur verfassungsspezifische Verletzungen prüft, dennoch werden konkrete Umstände der Versammlung detailliert abgewogen. Dabei sticht hervor, dass unruhestiftende Äußerungen auch konkrete Unruhe oder Störungen hervorrufen müssen.
Für die Ausbildung und Klausurvorbereitung sind diese Grundsätze zu berücksichtigen. Eingerahmt von verfassungsprozessrechtlichen und anderen grundrechtlichen Problemen, kann die Entscheidung ohne weiteres Gegenstand einer Prüfung werden. Dabei könnten auch neue Elemente oder Hilfsmittel hinzugefügt oder mit anderen Entscheidungen zum Versammlungsrecht kombiniert werden.
In dem Kontext der Versammlungsfreiheit ist eine weitere, konsequent fortschreitende Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts zu beachten. Das Gericht bezieht besondere „private“ und „öffentliche“ Plätze in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG ein. Virulent ist das Thema vor allem durch die sog. „Fraport-Entscheidung“ (BVerfG NJW 2011, 1201) geworden, in der das Gericht Teile des Frankfurter Flughafens – vor dem Hintergrund der Grundrechtsbindung „gemischtwirtschaftlicher Unternehmen“ – für Versammlungen öffnete. Dies wird nun durch die jüngste Rechtsprechung des Gerichts für Friedhöfe und ähnliche Plätze erweitert. Die Voraussetzungen nach BVerfG NJW 2014, 2706 sind zwar engmaschig, jedoch wird der Schutzbereich grundsätzlich berührt, wenn auf Friedhöfen oder ähnlich geschützten Bereichen demonstriert wird.