Stellungnahme der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort (BT-Drs. 17/10379, hier abrufbar) auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (BT-Drs. 17/10271) vertreten, dass sich Initiatoren von „Onlinedemonstrationen“ nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen können. Hierzu führt die Regierung aus:
„Was die Frage des Versammlungsrechts angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass eine Versammlung im Sinne von Artikel 8 des Grundgesetzes die gleichzeitige körperliche Anwesenheit mehrerer Personen an einem Ort erfordert. Mangels Körperlichkeit sind virtuelle Versammlungen etwa im Internet daher im verfassungsrechtlichen Sinne keine „Versammlungen“. Aus dem angesprochenen Artikel (www.Heise.de/tp/artikel/7/7907/1.html) ergibt sich keine andere Bewertung“ (BT-Drs. 17/10379, S. 11, hier abrufbar).
Rechtliche Würdigung
Die Ansicht der Bundesregierung ist – zumindest in ihrer Pauschalität – angreifbar. Nach einer Ansicht in der Literatur sind virtuelle Treffen in der Tat mangels Körperlichkeit keine Versammlungen i.S.d. Art. 8 GG (Klutzny, RDV 2006, 50, 51; Depenheuer, in: Maunz/Dürig, Art. 8 Rdnr. 45; AG Frankfurt, MMR 2005, 863). Dies werde schon durch den Begriff „sich versammeln“ impliziert; der Zusammenhang mit dem Subjekt „alle Deutschen“ mache klar, dass Menschen körperlich präsent sein müssten. Im körperlichen Fernbleiben der Internetuser liege gerade ein Verzicht auf die von der Versammlungsfreiheit geschützte spezifische Form der kollektiven Grundrechtsausübung (Kniesel, NJW 2000, 2857, 2860; Kraft/Meister, MMR 2003, 366; a.A. Seidel, DÖV 2002, 283, 285).
Dem kann nicht vollumfänglich zugestimmt werden. Zunächst ist festzuhalten, dass der Versammlungsbegriff des Grundgesetzes grundsätzlich offen ist in Bezug auf die Modalitäten der Versammlung (vgl. BVerfGE 69, 315, 343).
Der offene Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 GG legt eine restriktive Auslegung nicht nahe. Auch funktionale Überlegungen sprechen nicht zwangsläufig gegen die Einbeziehung virtueller Versammlungen in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, denn eine kollektive Meinungsäußerung ist gerade auch über Facebook-Gruppen oder andere Plattformen und Foren möglich. Diesen neuen Formen der Kommunikation sollte das Grundgesetz offen gegenüber stehen. Einschränkend ist zu konstatieren, dass rein internetbasierte Bewegungen im Prinzip vorgefertigten Protestschreiben, wie etwa einem offenen Brief, ähneln. Solche Arten von Protest sind nicht vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG erfasst. Das Maß an Interaktivität und gleichzeitiger virtueller Präsenz nimmt jedoch täglich zu. Viele neue Formen von Zusammenkünften im Netz gehen bereits jetzt deutlich über herkömmliche Formen der kollektiven Meinungsäußerung hinaus und entwickeln eine ähnliche Gruppendynamik wie eine Versammlung „auf der Straße“. So sieht etwa das soziale Netzwerk Google+ groß angelegte Videokonferenzen, sog. Hangouts, vor. Ähnliche Funktionen bieten auch Skype und vergleichbare Dienste. Daher sollte man zumindest nicht pauschal neue Formen des virtuellen Protests vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ausschließen, sondern von Fall zu Fall entscheiden, ob die im Netz zusammengekommene Gruppe im Vergleich zu einer klassischen Versammlung mit gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit als funktional äquivalent angesehen werden kann.
Selbst wenn man dem nicht folgen will, so kann bei Aktionen im Internet nicht per se der Schutz der Versammlungsfreiheit ausgeschlossen werden: Es ist stRspr. des BVerfG, dass Art. 8 I GG nicht bloß das Abhalten einer Versammlung, sondern darüber hinaus auch die notwendigen Vorbereitungshandlungen zum „Sich-Versammeln“ schützt (BVerfGE 69, 315, 349; 84, 203, 209). Damit umfasst der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG neben der eigentlichen Versammlungsdurchführung auch alle für die Realisierung notwendigen Maßnahmen. Dazu gehören etwa die Ankündigung der Veranstaltung, Teilnahmeaufrufe oder sonstige Einladungsformen sowie der Zugang und die Anreise zu einer Versammlung. Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass die Versammlungsfreiheit durch Vorfeldmaßnahmen ausgehöhlt wird. Sofern also über das Internet eine Versammlung organisiert wird, kann der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG eröffnet sein. Dies insbesondere, weil Eingriffe auf dieser Ebene eine Behinderung und Abschreckungswirkung für die anstehende physische Versammlung bedeuten.
Pingback: Facebook an Kosten für ausufernde Facebook-Parties beteiligen? | Juraexamen.info()
Pingback: Notiz: Versammlungsverbot für HoGeSa-Veranstaltung "Europa gegen den Terror des Islamismus" rechtswidrig | Juraexamen.info()