Gestern hatten wir bereits über ein Urteil des BGH (vom 2. November 2011 – 2 StR 375/11) berichtet, durch das die Verurteilung eines Mitglieds der Hells Angels wegen Totschlags aufgehoben worden war (s. hier). Ein SEK hatte versucht, den „Rocker“ nachts in seiner Wohnung überraschend zu verhaften. Der Hells Angel hielt die Polizisten für Auftragskiller der verfeindeten Bandidos und schoss in der Dunkelheit auf die vermeintlichen Angreifer, wobei einer der Beamten tragischerweise zu Tode kam, da die Kugel genau durch den Armausschnitt der Schutzweste seitlich in den Brustkorb eindringen konnte.
Klassischer Fall des Erlaubnistatbestandsirrtums
Wie in unserer Urteilsanalyse berichtet, handelt es sich vorliegend (abgesehen von dem unbeachtlichen error in persona) um einen klassischen Fall des Erlaubnistatbestandsirrtums und zwar in Form der Putativnotwehr. Wenn also der vorgestellte Sachverhalt hier zu einer Rechtfertigung nach § 32 StGB geführt hätte, muss eine Verurteilung wegen Totschlags ausscheiden (nach h.M. mangels Vorsatzschuld). Entscheidend war insofern die Frage, ob dem Angeklagten ein Warnschuss als milderes Verteidigungsmittel zumutbar gewesen wäre. Der BGH hatte dies abgelehnt, denn „im Augenblick – irrtümlich angenommener – höchster Lebensgefahr war dem Angeklagten nicht zuzumuten, zunächst noch durch weitere Drohungen oder die Abgabe eines Warnschusses auf sich aufmerksam zu machen und seine “Kampf-Position” unter Umständen zu schwächen.“
Unsachliche Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
Gegen dieses Urteil richtet sich der Beitrag von Philip Eppelsheim in der heutigen FAS vom 6.11.2011 (S. 14 – in der Rubrik „Meinung“). Ich zitiere:
Karl-Heinz B. [Anm.: der Angeklagte] ist ein Mitglied der Rockergang, die in vielen Städten Deutschlands das Rotlichtmileu beherrscht. Immer wieder nennen Ermittler Rocker in einem Atemzug mit Schutzgelderpressung, Drogen-, Menschen- und Waffenhandel. Und auch mit Mord. Mit organisierter Krimilalität. Ihre Probleme regeln die Rocker selbst. Das ist ihr Selbstverständnis, welches etwa zu besichtigen war, als Hells Angels und Bandidos, zwei Monate nachdem Karl-Heinz B. durch die Tür gefeuert hatte, ihren Friedensgipfel abhielten und Deutschland unter sich aufteilten. Die Grenzen absteckten, um die sie mit allen Mitteln gekämpft hatten.
Was sagt das BGH-Urteil den Rockern? Dass sie nach ihren Regeln spielen können. Dass sie schießen dürfen, sobald sie sich bedroht fühlen – was zu ihrem „Geschäft“ gehört. Sie können sich legal bewaffnen, um ihre Milieukriege zu führen, und wenn ein Polizist stirbt, dann war es Notwehr. Dann hielten sie ihn ganz einfach für ein gegnerisches Bandenmitglied. Ein Freibrief. Für die Polizisten dagegen ist es ein Schlag ins Gesicht. Sie sollen gegen die Rockerkriminalität vorgehen und müssen nun damit rechnen, mit Schüssen begrüßt zu werden, ohne dass der Täter Folgen fürchten muss. Denn dann heißt es eventuell wieder: „Dass es durch die Verkettung unglücklicher Umstände zum Tod des Polizeibeamten kam, war dem Angeklagten daher nicht anzulasten.“
Dieser Meinungsbeitrag muss in aller Deutlichkeit zurückgewiesen werden. Folgende Punkte sind meines Erachtens bedenklich:
- Zunächst beschreibt Eppelsheim sprachlich eindrucksvoll und in kurzen und dramatischen Sätzen die Bedrohung, die von den Hells Angels und Bandidos ausgeht. Dies ist alles wohl zutreffend und natürlich muss organisiertes Verbrechen im Rechtsstaat entschieden bekämpft werden. Dennoch darf dies nicht den Blick auf den konkreten Fall vernebeln. Der Angeklagte ist in dem Verfahren eben wegen Totschlags angeklagt gewesen und nicht wegen diverser anderer Delikte wie Drogen- und Menschenhandel. Eine Vorverurteilung oder eine „Kollektivhaft“ für die Taten aller Hells Angel scheidet im Rechtsstaat natürlich aus. All diese anderen Straftaten sind damit allenfalls bei der Strafzumessung relevant, oder vielleicht auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des Angeklagten – sie werden aber nicht im Hinblick auf die Frage der Strafbarkeit des vermeintlichen Totschlags relevant.
- „Sie können sich legal bewaffnen, um ihre Milieukriege zu führen, und wenn ein Polizist stirbt, dann war es Notwehr.“ Diese Aussage ist in ihrer schlichten Form natürlich Unsinn. Natürlich kann man bemängeln, das solche Leute legal an Waffen kommen, aber dies ist eine getrennte Problematik. Dass man sich einfach immer auf Notwehr berufen kann, wenn ein Polizist stirbt, ist dermaßen abwegig, dass ich das nicht mehr kommentiere. Man muss wirklich nicht Jura studieren, um zu merken, dass dies falsch ist.
- Eppelsheim wirft dem BGH schließlich vor, das Urteil stelle einen Freibrief für Verbrecher dar. Sie könnten auch in Zukunft munter auf Polizisten schießen und sich dann durch Schutzbehauptungen der gerechten Strafe entziehen. Dies ist natürlich haltloser Unfug. Gegen eine „normale“ Verhaftung darf sich selbstverständlich niemand wehren, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ist schließlich auch strafbar. Und selbstverständlich kann man nicht immer einfach behaupten, man hätte die Polizisten für gegnerische Kriminelle gehalten. Sieht der Angeklagte die Uniform oder geben sich die Ermittler auf andere Weise zu erkennen, greifen solche Behauptungen natürlich nicht.
- Das Urteil ist auch sicherlich kein Schlag ins Gesicht der Polizei. Allenfalls könnte es den Ermittlern insofern zu Bedenken geben, dass man nicht noch einmal durch eine derart riskante Aktion das Leben der Beamten gefährdet. Es drängt sich die Frage auf, warum man einen Menschen, der allgemein als gewaltbereit bekannt war und von dem man wusste, dass er eine Schusswaffe besitzt und der berechtigte Angst vor Angriffen gegnerischer „Rocker“ haben musste, gerade nachts in seinem Haus „überfallen“ musste, um ihn festzunehmen. Eine Eskalation der Geschehnisse ist durch diese riskante Aktion ja geradezu heraufbeschworen worden. Hätte man nicht einfach morgens das Haus umstellen und den Verdächtigen dann festnehmen können?
- Eppelsheim unterstellt zudem, dass es sich bei dem vom Angeklagten beschriebenen Putativnotwehrszenario um eine Schutzbehauptung handelt („Dann hielten sie ihn ganz einfach für ein gegnerisches Bandenmitglied“). Darüber mag man denken, was man will. Im vorliegenden Fall lag aber ganz klar eine Ausnahmesituation vor. Wenn man den Angeklagten eben nicht nachts im Schlaf „überrascht“ hätte, wäre er natürlich nie im Leben mit einer entsprechenden Aussage durchgedrungen. Es war eben doch ein krasser Ausnahmefall, bei dem eine Verkettung zahlreicher unglücklicher Umstände zum Tod des Polizisten führte, ohne dass hierfür jemand strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen wäre. Genau dies leugnet Eppelsheim, indem er die Aussagen des BGH willkürlich verallgemeinert – und gerade darin liegt die eklatante Fehlbewertung des Urteils.
Noch einmal: Ob man dem Angeklagten hier glauben möchte oder nicht, ob man den Warnschuss in der konkreten (vorgestellten!) Situation für zumutbar erachten soll oder nicht – über all diese Frage kann man sicherlich geteilter Auffassung sein. Es ist jedoch ungeheuerlich, dem BGH zu unterstellen, er habe hier dem organisierten Verbrechen einen Freibrief erstellt, bei Verhaftungen munter auf Polizisten zu schießen. Das BGH-Urteil sagt vieles, vieles davon ist unstreitig richtig – und eines sagt es sicherlich nicht, nämlich dass die Hells Angels „nach ihren Regeln spielen können“ (so Eppelsheim). In deutschen Gerichten wird nämlich nach den Regeln des Rechtsstaats gespielt, auch wenn Journalisten ab und an etwas anderes fordern.