EuGH zur Niederlassungsfreiheit bei Staatsangehörigkeitserfordernissen für Notare
Der EuGH hat am 25.05.2011 (Rs. C-47/08) entschieden, dass der Ausnahmetatbestand für die Ausübung öffentlicher Gewalt im Rahmen der Niederlassungsfreiheit bei Regelungen, die das Notarwesen betreffen, nicht anwendbar ist.
Üblicherweise sind aktuellere Urteile des EuGH zu den Grundfreiheiten für die Examensvorbereitung eher zu vernachlässigen; so kommt es doch insbesondere mehr auf die Kenntnis der grundlegenden Klassiker und eine saubere Prüfungsstruktur an. Gleichwohl bieten aktuelle Urteile, die sich im Bereich des Pflichtfachstoffs befinden, Anlass für Examensprüfer eine altbekannte Problematik in neuem Gewand abzuprüfen. Genau um einen solchen Fall handelt es sich bei dem hier besprochenen Urteil.
Sachverhalt (vereinfacht)
Ein Mitgliedsstaat erlässt eine gesetzliche Regelung, wonach zur Ausübung des Notarberufs die Staatsangehörigkeit des selbigen Mitgliedsstaats notwendig ist.
Lösung
Die hier vorliegende staatliche Regelung könnte eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) darstellen.
I. Kein abschließendes europäisches Sekundärrecht
Bevor mit der Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 49 AEUV begonnen werden kann, muss festgestellt werden, ob der hier vorliegende Fall nicht bereits abschließend von einer europäischen Richtlinie oder Verordnung erfasst ist. Wäre dies der Fall, so hätte man die entsprechende nationale Vorschrift am Maßstab dieser Sekundärrechtsakte messen müssen.
Im vorliegenden Fall war u.a. die Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen einschlägig. Darüber hinaus bestand allerdings kein abschließendes Sekundärrecht, so dass der EuGH auch auf die Grundfreiheiten rekurrieren konnte. Im Rahmen einer Klausur wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass kein abschließendes Sekundärrecht vorliegt. Sollte es doch mal so sein, so wird vom Klausurersteller mit Sicherheit auf diese Besonderheit hingewiesen.
II. Schutzbereich des Art. 49 AEUV
Der EuGH fasst den sachlichen Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ausdrücklich weit. Der Schutzbereich erfasst „die Möglichkeit für einen Unionsangehörigen, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen“, vgl. EuGH, Rs. C-384/08. Dazu gehört die Niederlassung einer natürlichen oder juristischen Person in einem anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten, die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat oder aus einem Mitgliedstaat heraus und die Gründung und Leitung von Unternehmen (Gesellschaften) in einem anderen Mitgliedstaat, vgl. Calliess/Ruffert/Bröhmer, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Rn. 9.
Vorliegend betrifft diese Vorschrift die Niederlassung von ausländischen Notaren im Inland. Insbesondere sind Notare anderer EU-Mitgliedsstaaten erfasst, so dass auch der persönliche Schutzbereich tangiert ist. Eine solche Niederlassung kann in Form einer Zweigniederlassung oder als selbstständiger Hauptsitz erfolgen. Der Schutzbereich des Art. 49 AEUV ist damit eröffnet.
III. Grenzüberschreitenden Bezug
Damit die Grundfreiheiten des AEUV anwendbar sind, bedarf es neben der Eröffnung des sachlichen und personellen Schutzbereichs auch eines grenzüberschreitenden Bezuges. Da hier insbesondere die Niederlassung von EU-Ausländern betroffen ist, liegt dieser Bezug ohne Weiteres vor.
IV. Richtiger Adressat der Niederlassungsfreiheit
An die Grundfreiheiten sind grundsätzlich nur die Mitgliedstaaten und deren Einrichtungen gebunden. Da vorliegend eine gesetzliche Regelung eines Mitgliedstaates in Frage steht, liegt ein richtiger Adressat vor.
Exkurs: Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV) besteht hingegen eine horizontale Direktwirkung, so dass auch private Arbeitgeber diese Grundfreiheit berücksichtigen müssen (s. dazu EuGH Rs. C-281/98 – Angonese und Rs. Bosman C-415/93). Zudem äußerte sich der EuGH in der Entscheidung Laval (Rs. C‐341/05) dahingehend, dass Gewerkschaften bei der Ausübung ihres Streikrechts ebenso verpflichtet sein können, die Niederlassungsfreiheit nach Art 49 AEUV zu berücksichtigen.
V. Eingriff in den Schutzbereich
Damit ein Eingriff (oder streng genommen eine Beschränkung) der Niederlassungsfreiheit angenommen werden kann, musste nach der alten Rechtsprechung des EuGH eine Diskriminierung, also eine Ungleichbehandlung (sei es eine offene oder verdeckte) vorliegen, vgl. etwa EuGH, Rs. C-61/89.
Die neuere Rechtsprechung des EuGH ist offener für einen weiten Beschränkungsbegriff und kategorisiert deshalb teilweise auch Regelungen, die unterschiedslos für Inländer wie Ausländer gelten, als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 49 AEUV.
Exkurs zur Frage, ob bei Art. 49 AEUV ein allgemeines Beschränkungsverbot oder lediglich ein Diskriminierungsverbot vorliegt: Die Rechtsprechung zum Eingriff in Form eines bloßen Beschränkungsverbots setzte sich mit der Rechtssache in Gebhard (EuGH, Rs. C-55/94) fort. Gleichwohl tendiert der EuGH bei der Niederlassungsfreiheit insbesondere bei steuerrechtlichen Regelungen eher zum Maßstab des Diskriminierungsverbots, vgl. EuGH, Rs. C446/0. Auch neuere Fälle zeigen, dass der EuGH bei der Annahme eines allgemeinen Beschränkungsverbots bei Art. 49 AEUV zurückhaltender als etwa bei der Waren- und Dienstleistungsfreiheit vorgeht, vgl. etwa EuGH, Rs. C-656/08. Die Haltung, dass der EuGH bei der Niederlassungsfreiheit von einer so weitreichenden Formel wie bei der Dassonville- oder Säger-Rechtsprechung (zur Waren- und Dienstleistungsfreiheit) absieht, mag dadurch motiviert sein, dass der EuGH den Mitgliedsstaaten bei der Niederlassungsfreiheit mehr Freiraum der Ausgestaltung zubilligen möchte, da sich derjenige, der sich Niederlässt zumindest freiwillig in die jeweils andere Rechtsordnung begibt, um dort wirtschaftlich tätig zu sein.
Im vorliegenden Fall braucht der Streit um die Reichweite der Niederlassungsfreiheit nicht erörtert werden, da es sich bei dem Staatsangehörigkeitserfordernis sogar um eine offene Diskriminierung ausländischer Notare handelt, da diese explizit an der Berufsausübung im EU-Ausland gehindert werden.
VI. Ausübung hoheitlicher Gewalt – Ausnahme nach Art. 51 AEUV
Eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit i.S.v. Art 49 AEUV ist gemäß Art 51 AEUV dann zu verneinen, wenn die in Frage stehende nationale Regelung eine Tätigkeit betrifft, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist. Es stellte sich für den EuGH in diesem Urteil somit die Frage, ob die Tätigkeit eines Notars die Ausübung öffentlicher Gewalt darstellt. Nach dem EuGH ist Art 51 (und auch die entsprechenden Ausnahmen bei den anderen Grundfreiheiten) restriktiv auszulegen. Der EuGH stellte somit konsequent fest, dass nur Tätigkeiten, die unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, von der Anwendung des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit ausgenommen werden können.
Für den hoheitlichen Charakter der Tätigkeit des Notars spricht, dass sein Tätigwerden teilweise als gesetzlich vorgeschriebene Voraussetzungen für das Zustandekommen von Rechtsakten vorgesehen ist. Eine notariell beglaubigte Urkunde birgt zudem eine erhöhte Wirkung der Beweiskraft in sich und kann sogar die sofortige Vollstreckbarkeit induzieren.
Nach Ansicht des EuGH ist die Beurkundungstätigkeit der Notare aber nicht mit einer unmittelbaren und spezifischen Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden. Dass bei bestimmten Rechtsakten und Verträgen eine notarielle Beurkundung als notwendige Voraussetzung vorgesehen ist, ändere nichts an diesem Ergebnis. Es bestehe kein wesentlicher Unterschied zu anderen Formerfordernissen oder Validierungsverfahren. Maßgeblich sei überdies, dass der Notar nur auf Antrag der Parteien tätig wird und somit als Dienstleister für Private tätig ist, und gerade nicht als hoheitliche Einrichtung, die von sich aus Verwaltungsakte erlassen kann.
Auch das Argument, dass die Notartätigkeit ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel, nämlich die Gewährleistung der Rechtmäßigkeit und Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen, verfolgt, genüge nach dem EuGH nicht, um eine Ausnahme nach Art 51 AEUV anzunehmen.
Zudem bewegen sich Notare bei der Ausübung ihres Berufs in einem kompetitiven Umfeld zu anderen Notaren und sind damit Wettbewerb ausgesetzt. Ein Vorliegen von Wettbewerb sei aber gerade für die Ausübung öffentlicher Gewalt untypisch. Überdies haften Notare gegenüber ihren Mandanten unmittelbar und persönlich, während hingegen bei behördlichem Fehlverhalten der Staat nach § 839 BGB, Art 34 GG hafte.
Exkurs: Die gleiche Problematik stellte sich auch für den Beruf des Rechtsanwalts. Hier hat der EuGH mit ähnlichen Argumenten entschieden, vgl. EuGH, Rs. 2/74. Rechtsanwälte sind zwar im Allgemeininteresse quasi als verlängerter Arm des Richters für die Verwirklichung des Rechtsstaats verantwortlich – trotz allem üben sie selbst keine Hoheitsgewalt aus; dies auch dann, wenn in einem Prozess beispielsweise Anwaltszwang herrscht (vgl. etwa § 78 ZPO).
Im Ergebnis liegt damit kein Ausnahmetatbestand nach Art. 51 AEUV vor.
VII. Rechtfertigung
Bei der Prüfung der Grundfreiheiten kann eine Rechtfertigung entweder aufgrund eines ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes oder aufgrund der geschriebenen (sehr restriktiv auszulegenden) Rechtfertigungsgründe erfolgen.
1. Ungeschriebene Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses
Nach der Rechtsprechung in der Sache Gebhard können Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit gerechtfertigt sein, wenn die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sind:
- keine diskriminierende Anwendung
- Vorliegen eines zwingenden Grund des Allgemeininteresses
- Eignung, die Verwirklichung des verfolgten Zieles zu gewährleisten, und Beschränkung auf das, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (also die Verhältnismäßigkeit der Regelung)
Vorliegend handelt es sich wie beschrieben um eine offene Diskriminierung. Aus diesem Grund ist bereits die erste Voraussetzung der Gebhardt-Rechtsprechung nicht erfüllt. Ein ungeschriebener Rechtfertigungsgrund kommt damit nicht in Betracht.
2. Geschriebener Rechtfertigungsgrund
Zudem kann die geschriebene Rechtfertigung nach Art 52 AEUV in Betracht gezogen werden. Eine Rechtfertigung ist demnach nur dann möglich, wenn es die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit fordert und wenn die Maßnahme verhältnismäßig ist.
Die öffentliche Sicherheit und Ordnung kann allerdings nur geltend gemacht, werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, vgl. EuGH, Rs. C-326/07. Es handelt sich bei diesem Begriff um einen europarechtlich autonom zu bestimmenden Begriff. Parallelen etwa aus dem innerstaatlichen polizeirechtlichen Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung können daher nicht herangezogen werden.
Exkurs: Der EuGH lässt den Mitgliedsstaaten gleichwohl einen gewissen Spielraum bei der Definition dieses Begriffs, vgl. EuGH Rs. 36/75. Wie weit ein solcher Spielraum reichen mag, ist allerdings eine Frage des Einzelfalls und die Grenzen sind nicht klar aufgezeigt. Der Grundsatz ist jedenfalls, dass der Mitgliedsstaat substantiiert darlegen muss, aus welchen Gründen er vom Grundsatz der Niederlassungsfreiheit abweicht. Für die Klausur bietet es sich allerdings stets an, den Begriff so restriktiv wie möglich auszulegen und auf die europarechtlich autonome Bestimmung hinzuweisen.
Eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung für die Gesellschaft ist vorliegend nicht zu befürchten. Es erscheint in diesem Fall eher fernliegend, dass der Einsatz von ausländischen Notaren zu erheblichen und merklich spürbaren Verschlechterungen eines Rechtspflegesystems führen würde.
VIII. Ergebnis
Da somit der geschriebene Rechtfertigungsgrund des Art. 52 AEUV nicht eingreift, besteht im vorliegenden Fall eine Beschränkung (ein Eingriff) in die Niederlassungsfreiheit, die nicht gerechtfertigt ist. Art 49 AEUV ist damit durch die innerstaatliche Regelung, die Notaren ein Staatsangehörigkeitserfordernis aufbürdet, verletzt.
Examensrelevanz
Die Prüfung der Grundfreiheiten gehört mittlerweile zum absoluten Pflichtfachstoff im Staatsexamen. Die Beherrschung der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit wird dabei in der Frequenz am häufigsten abgeprüft. Gerade Entscheidungen wie die hier besprochene, die vom Student ohne besonderes Spezialwissen behandelt werden können, zeigen aber, dass die Niederlassungsfreiheit nicht zu vernachlässigen ist. Das gleiche gilt ebenso für die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die insbesondere aufgrund ihrer horizontalen Direktwirkung (s. dazu EuGH Rs. C-281/98 – Angonese und Rs. Bosman C-415/93) ein zusätzliches Problem aufwirft.
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