BGH: Neues zur Wahlfeststellung
I. Was bisher geschah
Es gibt Themen, die scheinen zeitlos zu sein – so bspw. die Wahlfeststellung, die Studierende seit Generationen schon beschäftigt. Zu dieser Diskussion hat der BGH nun durch einen Beschluss vom 02.11.2016 (2 StR 495/12) ein weiteres Kapitel hinzugefügt. Insbesondere ist zwischen verschiedenen Strafsenaten des BGH streitig, ob es das Konstitut der Wahlfeststellung überhaupt gibt (bzw. ob diese verfassungsgemäß ist). Der 2. Strafsenat des BGH hält die richterrechtliche Grundlage wegen Verstoßes gegen das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG) für verfassungswidrig und hatte diese Frage bereits im Jahr 2015 dem Großen Senat für Strafsachen vorgelegt, nachdem alle anderen Strafsenate seiner Ansicht entgegengetreten waren. Diese Vorlage hatte der 2. Strafsenat mit Beschluss vom 07.08.2016 zurückgenommen, da materiellrechtliche Fragestellungen noch unklar waren.
Der 2. Strafsenat des BGH hat nun – nach Durchführung einer erneuten Hauptverhandlung – entschieden, wegen grundsätzlicher Bedeutung wiederum den Großen Strafsenat mit der Frage zu befassen. Er hält weiterhin an seiner Ansicht fest, dass es für die „Wahlfeststellung“ einer gesetzlichen Grundlage bedürfe, weil es sich nicht allein um eine prozessuale Entscheidungsregel, sondern um materielles Strafbegründungsrecht handele, das den Erfordernissen des Art. 103 Abs. 2 GG unterfalle.
II. Allgemeines zur Wahlfeststellung
Aber zunächst zurück zu allgemeinen Fragestellung. was ist überhaupt Wahlfeststellung. Inhaltlich handelt es sich um eine Ausnahme von dem Grundsatz „in dubio pro reo„.
Zu unterscheiden ist dabei zwischen echter und unechter Wahlfeststellung.
Unter unechter Wahlfeststellung sind hingegen Fälle zu verstehen in den zwar das verwirklichtes Delikt klar ist, aber Unklarheit darüber besteht, durch welche Handlung dieses Delikt begangen wurde. Eine Verurteilung soll hier dann erfolgen, wenn es sich um eine einheitliche Tat handelt.
Unter echter Wahlfeststellung wird dabei der Fall verstanden, dass unter mehreren möglichen Delikte nicht sicher ist, welches verwirklicht wurde. Sicher ist hingegen die Verwirklichung eines der möglichen Delikte. Hier erfolgt dann als Rechtsfolge eine Verurteilung wegen alternativer Delikte (deutlich machen mit „oder“), sofern diese ethisch und sozial vergleichbar sind. Die Strafzumessung ergibt sich dann aus dem milderen Delikt. Nur diese ist eine Ausnahme vom Grundsatz in dubio pro reo. In Anwendung des Grundsatzes „im Zweifel für den Angeklagten“ müsste in solchen Fällen jeder Tatbestand gesondert geprüft und der Angeklagte freigesprochen werden, weil keine der beiden Taten zweifelsfrei bewiesen ist. Das Verhältnis zwischen Diebstahl und Hehlerei ist der häufigste Fall der Wahlfeststellung; die Rechtsprechung hat sie aber auch für zahlreiche andere Konstellationen zugelassen. Eine gesetzliche Grundlage für diese Ausnahme besteht nicht; eine entsprechende Regelung des NS-Strafrechts wurde durch den Alliierten Kontrollrat im Jahr 1946 aufgehoben.
III. Frage der Verfassungswidrigkeit
1. Ansicht des 2. Strafsenats
Der 2. Strafsenat des BGH hält die richterrechtliche Grundlage wegen Verstoßes gegen das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG) für verfassungswidrig und hatte diese Frage bereits im Jahr 2014 dem Großen Senat für Strafsachen vorgelegt (Beschluss vom 28.1.2014 – 2 Str 495/12). Nun wird diese Frage erneut dem großen Senat vorgelegt. Er rügt einen Verstoß gegen Art 103 Abs. 2 GG und unterscheidet zwischen Strafbegründung und -zumessung strikt:
Eine derartige gesetzesalternative Verurteilung verstoße gegen das Analogieverbot. Sie wirke strafbegründend, weil in einem solchen Fall die Erfüllung einer bestimmten Strafnorm nicht feststellbar sei. Die Verurteilung beruhe dann letztlich auf einer ungeschriebenen dritten Norm, die nicht durch den Gesetzgeber erlassen worden sei, sondern Richterrecht darstelle. Aus diesem Grund sei im Fall einer gesetzesalternativen Verurteilung auch keine dem Gesetz entsprechende Strafzumessung möglich.
Diese konkretisiert er wie folgt:
Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein striktes Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie. […] Wenn die Verfassung fordert, dass die Strafbarkeit „gesetzlich bestimmt“ sein muss, bedeutet dies zweierlei. Die Voraussetzungen der Strafbarkeit müssen gesetzlich geregelt und das diesbezügliche Gesetz muss hinreichend bestimmt sein.
Eine Verletzung dieser Maßstäbe wird bejaht, da die Grenzen überschritten würden:
Für eine rein prozessuale Regelung würden die Gebote des Art. 103 Abs. 2 GG zwar nicht gelten (Kudlich in Kudlich/Montiel/Schuhr [Hrsg.], Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, S. 233, 239 ff. mwN). Darum geht es hier aber nicht. Die Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung bestimmt vielmehr „die Strafbarkeit“.
Ein Unterschied der Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung gegenüber nicht an Art. 103 Abs. 2 GG zu messenden prozessualen Rechtsinstituten wie der Verjährung der Strafverfolgung oder dem Erfordernis eines Strafantrags, kommt darin zum Ausdruck, dass hier über den Schuld- und Strafausspruch in Abgrenzung zu einem Freispruch entschieden wird, während jene Institute prozessuale Rechtsfolgen haben. Die Verjährung der Strafverfolgung lässt das strafrechtliche Unrecht und die Schuld des Täters unberührt (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 1968 – 2 BvL 15/68, BVerfGE 25, 269, 294); sie führt zur Einstellung des Verfahrens. Gleiches gilt, wenn ein bei dem konkreten Delikt erforderlicher Strafantrag fehlt. Die Anwendungsregel einer gesetzesalternativen Verurteilung entscheidet demgegenüber – soweit kein Auffangtatbestand eingreift – zwischen Freispruch und Bestrafung. Dieses Richterrecht beherrscht dadurch die Voraussetzungen für den Schuldspruch und bestimmt außerdem die Kriterien für die Zumessung der Strafe auf dieser Grundlage.
Ferner fehle es an einer gesetzgeberischen Konturierung:
Der Gesetzgeber hat in den einzelnen Straftatbeständen – von der Bezeichnung des Rechtsguts abgesehen – keinen Hinweis darauf gegeben, ob und unter welchen Umständen diese Normen dahin auszulegen sind, dass sie mit anderen Straftatbeständen rechtsethisch und psychologisch vergleichbar sind. Die Rechtsprechung hat ihrerseits bei der Auslegung und Anwendung der Normen in den Fällen gesetzesalternativer Verurteilungen keine nähere Erläuterung gegeben, weshalb eine rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit anzunehmen sein soll. Auch ihre gegebenenfalls ergänzende Aufgabe der Präzisierung ist demnach nicht erfüllt.
Dem Gesetzesvorbehalt und dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG unterliegt schließlich auch die Strafandrohung (BVerfG, Urteil vom 20. März 2002 – 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135, 153), die in einem angemessenen Verhältnis zur Tat stehen muss.
(BGH, Vorlagebeschluss vom 11. März 2015 – 2 StR 495/12 –, Rn. 60, juris)
2. Ansicht übriger Strafsenate
Dem widersprechen die übrigen Strafsenate.
Sie verneinen bereits die Anwendung des Art. 103 S. 2 GG:
Der 1. Strafsenat hat durch Beschluss vom 24. Juni 2014 – 1 ARs 14/14 (NStZ-RR 2014, 308 f.) ausgeführt, bei der gesetzesalternativen Verurteilung handele es sich um eine Verfahrensregel, die nicht der Verfassungsbestimmung des Art. 103 Abs. 2 GG unterliege. Die richterrechtliche Regel bestimme nicht darüber, was strafbar ist, sondern lege lediglich fest, wie das Gericht in einer bestimmten Situation prozessual zu reagieren habe.
Der 3. Strafsenat hat durch Beschluss vom 30. September 2014 – 3 ARs 13/14 (NStZ-RR 2015, 39 f.) erklärt, die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der gesetzesalternativen Verurteilung verletze nicht Art. 103 Abs. 2 GG. Der Sache nach handele es sich um eine Entscheidungsregel. Solche Regelungen würden von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst. Der Zweck des Gesetzlichkeitsprinzips, für den Angeklagten seine Bestrafung vorhersehbar zu halten, bleibe unberührt.
Der 4. Strafsenat hat in seinem Beschluss vom 11. September 2014 – 4 ARs 12/14 (NStZ-RR 2015, 40 f.) ausgeführt, die Tatsache, dass bei einer Verurteilung auf der Grundlage einer Wahlfeststellung nicht feststehe, welcher der Straftatbestände verletzt worden sei, ändere nichts daran, dass die strafrechtlichen Handlungsverbote für den Täter zur Tatzeit erkennbar gewesen seien.
Der 5. Strafsenat hat durch Beschluss vom 16. Juli 2014 – 5 ARs 39/14 (NStZ-RR 2014, 307 f.) ausgeführt, bei der gesetzesalternativen Verurteilung handele es sich um eine prozessuale Entscheidungsregel. Diese stelle eine Ausnahme von dem Rechtssatz „in dubio pro reo“ dar. Ein Freispruch in doppelter Anwendung des Zweifelsatzes wäre in Fällen, in denen ein strafloses Verhalten des Angeklagten sicher auszuschließen sei, mit dem Gebot der Gerechtigkeit unvereinbar.
IV. Zusammenfassung
Bereits die zu dieser Fragestellung veröffentlichte Literatur zeigt, dass es eine Menge „Fans“ dieser Problematik unter den Juristen gibt. Aus diesem Grund und weil Entscheidungen des Großen Senats äußerst selten sind, muss auf die besondere Examensrelevanz hingewiesen werden. Hier auf Lücke zu setzen, erscheint fahrlässig. Vielmehr sollten die aktuellen Entwicklungen und Meinungsstränge im Blick behalten werden. Eine exakte Übernahme und Wiedergabe ist nicht nötig; die Strukturen sollten aber bekannt sein.
Bei der „unechten Wahlfeststellung“ muss eindeutig erwiesen sein, dass der Täter den Taterfolg (z. B. Tötung des Opfers) mit allen seinen aggressiven Handlungen zumindest billigend in Kauf genommen hat, so dass es dahingestellt sein kann, ob z.B. der Tod durch Erstechen oder Erschießen eintrat, insbesondere ob er nur durch die letzte Handlung erreicht wurde, weil das Opfer bereits durch die vorhergehende gestorben ist. Andernfalls kommt zu seinen Gunsten als Alternative entweder eine fahrlässige, unbeabsichtigte Folge oder sogar ein unverschuldetes Ereignis durch Dritte oder höherer Gewalt nach dem Grundsatz in dubio pro reo zum Tragen. – Ergibt die Beweisaufnahme, dass der Täter mit völlig untauglichen Handlungen (z. B. Geisterbeschwörungen) agierte und der gewünschte und eingetretene Taterfolg nur durch einen Dritten oder höhere Gewalt eintrat, kann er auch bei einer „unechten wahldeutigen Feststellung“ allenfalls wegen versuchter Straftat verurteilt werden, sofern man ihn nicht wegen völliger Unzurechnungsfähigkeit freisprechen muss. Wird zweifelsfrei der Taterfolg dem einen oder anderen Teil der zusammenhängenden Handlungen einer Straftat nachgewiesen, kann Art. 103 Abs. 2 GG nicht verletzt sein.
Problematischer ist dagegen die „echte Wahlfeststellung“. Hier kann der Strafrichter nicht nur von einen einzigen Angriff des Täters auf das verletzte Rechtgsgut ausgehen, weil unklar bleibt, ob er ihn durch die eine von einer anderen separaten, möglichen Tat ausgeführt hat. Hier ist nur sicher, dass das verletzte Rechtsgut vom Täter vorsätzlich im Sinne der einen oder anderen Strafvorschrift verletzt wurde. Eine Verurteilung kann hier in der Tat nur erfolgen durch eine paralelle Anwendung beider Bestimmungen, ohne die der Verbrecher sich des Erfolges seiner Untat auch zivilrechtlich erfreuen kann. Im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG sind beide Vorschriften hinreichend bestimmt. Das Verbotene seines Tuns war dem Täter zweifelsfrei erkennbar. Zur Verantwortung dafür aber kann er nur gezogen werden, wenn er nach beiden Gesetzen bestraft wird. Dies ermöglicht die ausnahmsweise Heranziehung zweier nur für möglich gehaltenen Handlungen, wobei sicher sein muss, dass die Straftat nur durch eine von ihnen durchgeführt wurde. Zu Gunsten eines Tatverdächtigen zweier möglichen Straftaten aber spricht jedes andere Ereignis, das für den Taterfolg ebenfalls möglich sein kann, aber ihm nicht als Vorsatztat zugerechnet werden kann (auch etwaige mögliche, fahrlässige Taten lassen keine Wahlfeststellungen zu Vorsatztaten zu!). Nur hier greift der prozessuale Grundsatz des „in dubio pro reo“ ein. Er aber ist bei der „echten Wahlfeststellung“ von der Logik ausgeschlossen.
Der Fall der echten Wahlfeststellung stellt ferner keine gegen Art. 103 GG unstatthafte Analogie von Strafvorschriften dar, die auf gesetzlich nicht strafbewehrte Tatbestände ausgedehnt werden.
Zu einer echten Wahlfeststellung scheint man regelmäßig nur gelangen zu
können, wenn man im Sinne einer sogennnaten „Rosinentheorie“ einerseits
das Vorliegen eines Umstandes im Zweifel zu Gunsten von jemandem, wie
eines möglichen Täters, verneint und an anderer Stelle andererseits im
Zweifel zu Gunsten eines möglichen Täters bejaht. Als Grund für die
Zuläsigkeit solchen Vorgehens gemäß einer „Rosinentheorie“ will man im
Zivilrecht teils oft eine besondere Schutzwürdigkeit (eines Gläubigers
o.ä.) anführten. An einer solchen kann es im Strafrecht allerdngs
fehlen, so dass hier die Zulässigkeit solchen Vorgehens gemäß einer
„Rosinntheorie“ rechtsstaatlich logisch widersprüchlich zweifelhaft
bleiben kann. Wer in jedem Fall alternativ zumindest einen
Straftatbestand erfüllt haben muss, scheint dabei kaum besonders
schutzwürdig. In Betracht kommen kann daher mit eher nur eine eindeutige
klare Verurteilung aus einem eventuell allgemeineren Straftatbestand.
U.U. kann grundsätzlich etwa Hehlerei als „allgemeiner“ gegenüber
Diebstahl auffassbar sein. Bei Diebstahl ist die ursprüngliche Beründung
einer Vermögensverletzung als strafbar normiert, Bei Hehlerei hingegen
die Aufrechterhaltung einer Vermögensverletzung. U.U. kann letzteres
allgemeiner sein. Bei Dieibstahl und Hehlerei besteht zudem für beide
Deilkte mit dem Strafttbestand der Unterschlagung ein allgemeinerer
Auffangtatbestand. In solchem Fall kann Wahlfestsstellung grundsätzlich
ausscheiden kann.