Eine aktuelle Entscheidung des BGH (Urt. v. 21.12.2011 – 2 StR 295/11) befasst sich mit der strafrechtlichen Garantenpflicht aus pflichtwidrigem Vorverhalten (Ingerenz). Die Urteilsgründe liegen noch nicht vor, eine Zusammenfassung findet sich in der Pressemitteilung 203/11.
I. Sachverhalt
In dem Fall hatte der Angeklagte dem Opfer – seiner Freundin – erkärt, die Beziehung beenden zu wollen. Der Angeklagte hatte zuvor eine Flasche mit 500ml des Drogenersatzstoffes GBL auf einen Tisch am Tatort gestellt. Der Angeklagte konsumierte regelmäßig GBL. Das Opfer hatte keine Erfahrung mit der Substanz. Der Angeklagte hatte der Geschädigten zuvor erklärt, dass das Mittel gefährlich sei. Die potentiell letale Dosis lag bei 7ml. Nachdem der Angeklagte die Beziehung definitiv für beendet erklärt hatte, trank das Opfer ca. 15 bis 25ml der Substanz. Der Angeklagte erkannte die Gefährlichkeit der Lage und veranlasste das Opfer, sich zu erbrechen. Dennoch wurde es kurz darauf bewusstlos. Der Angeklagte unternahm keine weiteren Rettungshandlungen und verließ kurz darauf den Tatort. Das Opfer verstarb.
II. Entscheidung
Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen Totschalgs durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB). Die Revision rügte, es habe sich bei dem Vorfall um einen Suizid gehandelt. Deshalb seien die Grundsätze über die Hilfspflicht von Garanten bei einem freiwilligen Suizid anzuwenden gewesen. Dies lehnt der BGH ab:
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des Angeklagten als unbegründet verworfen. Für eine Anwendung der Grundsätze zur Hilfspflicht von Garanten bei freiverantwortlichem Suizid bestand nach Ansicht des Senats kein Anlass. Denn nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Landgerichts lag hier schon die Annahme eher fern, die Geschädigte habe sich (ernstlich) töten wollen. Hiergegen sprachen unter anderem die absolut geringe Menge des konsumierten GBL, die Handlungssituation in unmittelbarer Nähe des Angeklagten sowie der Umstand, dass die Geschädigte sich alsbald willentlich erbrach. Das Landgericht hat überdies nicht festgestellt, dass der Angeklagte selbst von einer ernsthaften Suizidabsicht der Geschädigten ausging. Er war daher, da er die Gefahrenquelle geschaffen hatte und über überlegenes Wissen verfügte, zur Rettung der Geschädigten verpflichtet.
III. Bewertung
Der Entscheidung ist – bis zur Veröffentlichung der Entscheidungsgründe jedenfalls im Ergebnis – zuzustimmen: Nach der Rechtsprechung des BGH trifft einen „Jedermanngaranten“ (anders kann es bei einem Arzt liegen, vgl. BGH, Urt. v. 4.7.1984 – 3 StR 96/84, BGHSt 32, 367 – Wittig) keine Pflicht zur Hilfeleistung bei einem freiwilligen Suizid (BGH, Urt. v. 3.12.1982 – 2 StR 494/82, NStZ 1983, 117). Zu Recht lehnt der 2. Senat im vorliegenden Fall die Freiwilligkeit ab (zum sehr umstrittenen Problem der Freiwilligkeit s. Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, Vor § 211 Rn. 13 ff.). Aufgrund der Situation dürfte das Opfer aus akuter Verzweiflung gehandelt haben. Wie der BGH zu Recht anmerkt, spricht dafür neben der Beendigung der Beziehung insbesondere, dass das Opfer sich kurz nach der Einnahme der Mittels bereitwillig erbrach.
Erschwerend kommt im vorliegenden Fall hinzu, dass der Angeklagte nicht „nur“ potentieller Garant aufgrund der Beziehung war (ob eine nichteheliche Beziehung eine Garantenstellung begründet, ist umstritten und wohl Frage des Einzelfalls), sondern Garant kraft Ingerenz. Die Entscheidung des BGH von 1982, auf die sich die Revision offenbar stützt, betraf einen Fall, in dem der damalige Angeklagte allenfalls aus einer nichtehelichen Beziehung bzw. Wohngemeinschaft eine Garantenstellung innehaben konnte, nicht aber aus Ingerenz. Insofern sind die Fälle nicht vergleichbar.
IV. Examensrelevanz
Obwohl die Entscheidung – soweit dies ohne die Entscheidungsgründe beurteilt werden kann – keine neuen dogmatischen Erkenntnisse bringt, ist sie für Klausuren gut geeignet. Denn der Sachverhalt ist einfach, bietet sich aber an, Probleme vor allem des AT des StGB abzufragen. § 10 Abs. 2 S. 4 JAG NRW drückt es so aus: „[Prüfungsaufgaben] sollen einen rechtlich und tatsächlich einfachen Fall betreffen, der dem Prüfling jedoch Gelegenheit gibt, seine Fähigkeit zur Erörterung von Rechtsfragen darzutun.“